Recherche 03. Juni 2024, von Hans Herrmann

Wenn Muslime und Christen gemeinsam beten

Gesellschaft

Seit vier Jahrzehnten ist im Kanton Bern der interreligiöse Dialog im Gang. Albert Rieger, ein Mann der ersten Stunde, hat dazu nun ein Buch verfasst.

Es begann vor 40 Jahren in einer Tiefgarage in der Nähe des Bahnhofs Bern. Hier hatte eine muslimische Glaubensgemeinschaft eine multinationale Moschee eingerichtet. Humam Al-Jabaji, Präsident der Gemeinschaft, und der reformierte Berner Theologe Albert Rieger trafen sich im Herbst 1984 vor Ort zu einem ersten Gespräch, das ein Jahr später in eine gemeinsam durchgeführte Tagung mündete.

«Nachbarschaft, die Frieden schafft» – so lautete der Titel der Veranstaltung. Das gesellschaftliche Klima war damals von neu erwachten Vorbehalten gegenüber Menschen mit ausländischen Wurzeln geprägt. Die Formel «Anpassen oder Rückkehr» widerspiegelte in knapper Form die Stimmung, die in dieser Zeit weit verbreitet war. Betroffen waren nebst italienischen und spanischen Saisonniers neuerdings auch Leute aus dem muslimischen Kulturraum.

Gibt es einen Mittelweg zwischen «Anpassung oder Rückkehr»? Und wo steht die Kirche? Dieser Frage widmete sich die Tagung. Und ebenso den praktischen Aspekten von Integration und Zusammenleben. Die Veranstaltung endete mit einem gemeinsamen «Gottesdienst der Nationen», mit Texten aus der Bibel und dem Koran sowie gemeinsamen Gebeten und dem viersprachigen Singen von Liedern. Ein türkischer Muslim sprach vor den Anwesenden sogar ein «Wort zum Sonntag», in dem er zu Respekt und Toleranz zwischen den Religionen aufrief.

Mit dieser Tagung war der Keim für das spätere «Haus der Religionen» gelegt, das 2014 in Bern unter nationaler und internationaler Beachtung seine Tore öffnete. Es sollte allerdings noch ein weiter Weg sein, bis das Projekt gedanklich entstand und praktisch umgesetzt wurde.

Ein Pionier als Chronist

Die Entwicklung des Dialogs der Religionen in Bern von seinen Anfängen bis zum Betrieb eines gemeinsamen Hauses schildert Albert Rieger in seinem eben erschienenen Buch «Bewegung von unten». Er arbeitete damals auf der Fachstelle Oeme der Berner Landeskirche und war an vorderster Front am Geschehen mitbeteiligt. Das Buch berichtet also aus der Perspektive eines Pioniers. Es ist anschaulich und in einem klaren, allgemein verständlichen Erzählstil verfasst – lässt sich also von allen lesen, die sich für das Thema interessieren, auch von Laien.

Albert Rieger, 78

Albert Rieger, 78

Der Autor des Buches «Bewegung von unten» studierte Evangelische Theologie in Berlin, Heidelberg und Tübingen. Von 1979 bis 2011 arbeitete er als Beauftragter für Oekumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit (Oeme) der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und als Leiter des Bereichs Oeme Migration. Er engagierte sich auch als Vorstandsmitglied im Haus der Religionen, wo er noch immer beratend und mit Einsätzen als Freiwilliger tätig ist.

Die Veranstaltung «Nachbarschaft, die Frieden schafft» lief nichts ins Leere. Die Teilnehmenden knüpften Beziehungen, die in den kommenden Jahren ausgebaut und vertieft wurden. Und dies in einem gesellschaftlichen Klima, in dem zunehmend die Muslime als Gefahr wahrgenommen wurden: «Das sich auflösende Feindbild ‹Kommunismus› ging für viele auch in der Schweiz nahtlos in das Feindbild ‹Islam› über», schreibt Rieger. Diese Entwicklung erfolgte nicht zuletzt im Zuge der Krise am Golf, die den Islam zum «Dauerbrenner in den Medien und am Stammtisch» machte.

Von der Kultur des Streitens

In den folgenden Jahren erfolgten weitere Schritte auf dem Weg zu einem Miteinander der Religionen. 1990 fand zum Beispiel eine äusserst gut besuchte Oeme-Konferenz zum Thema «Islam im Kanton Bern» statt, an der auch der Theologe Walter Hollenweger referierte. «Die notwendige Toleranz heisst nicht Preisgabe des Streites um die Wahrheit. Vielmehr ist es nötig, dass wir eine Kultur des Streitens entwickeln», sagte er. Und weiter: Es gibt Muslime, die die Wiederkunft des Jesus, des Messias, erwarten. Viele Juden warten auf die Wiederkunft des Messias, und viele Christen warten auf die Wiederkunft Jesu Christi. Vielleicht trägt der, der am Ende der Tage kommt und der die Erwartung der Synagoge, der Moschee und der Kirche ist, dasselbe Antlitz.»

Im Bewusstsein darum, dass das Ende aller Tage schon lange auf sich warten lässt und das Mitbauen an einer friedlichen Welt eine Daueraufgabe bleibt, setzten die Gesprächswilligen weiter engagiert auf den interreligiösen Dialog. Es folgte zum Beispiel ein gemeinsames muslimisches Fastenbrechen, gerade auch mit Blick auf die christliche Fastenpraxis. Zunehmend in den Fokus rückten auch Muslime im Spital und muslimische Kinder. Weiter fanden Diskussionen rund um Fragen der interreligiösen Ehe, der Bestattung und der politischen Teilhabe statt.

1997 erfolgte im Grossen Rat die öffentlich-rechtliche Anerkennung der jüdischen Gemeinden, und im Sommer 2010 verabschiedete die reformierte Berner Landeskirche einen Artikel in der Kirchenordnung, den Albert Rieger in seinem Buch als «historischen Meilenstein im Leben unserer Kirche» bezeichnet. Dieser Artikel bekräftigt die Verbundenheit der Kirche über die Grenzen des Christentums hinaus mit anderen Religionen «auf der Suche nach Sinn und Gestaltung des Lebens in Würde und Frieden».

Ayurvedisch und koscher

Zur Jahrtausendwende schliesslich kam die Idee eines Berner «Hauses der Religionen» auf. 2002 wurde ein Verein gegründet, der dieses Projekt angehen sollte. 2014 war es so weit: Das neu errichtete Haus der Religionen am Europaplatz öffnete seine Tore. Dieser Ort umfasst fünf Sakralräume, einen Dialogbereich und ein reichhaltiges kulturelles Programm. Hier feiern Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus und Angehörige weiterer Religionen unter demselben Dach, treten im Rahmen unterschiedlicher Anlässe in den gegenseitigen Dialog und beteiligen sich an Kooperationen, zum Beispiel im Verein Multireligiöse Begleitung Bern. Zu den Angeboten des Hauses gehört auch die Wissensvermittlung nach aussen – etwa in Form von Führungen – und ein Gastronomiebetrieb mit ayurvedischer und koscherer Küche.

Die Pionierarbeit im Kanton Bern sei im Wesentlichen jetzt abgeschlossen, bilanziert Albert Rieger in seinem Buch. Nun gelte es, den interreligiösen Dialog in eine gesamtgesellschaftlich fruchtbare Zukunft zu führen. Angesichts der angespannten Weltlage solle Religion «als Ressource für Orientierung und Solidarität» erlebbar werden, auch in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft. «Als Beitrag für ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit, weltweit und in der Schweiz», wie es der Autor auf den Punkt bringt.

Albert Rieger: Begegnung von unten. Geschichte und Geschichten des interreligiösen Dialogs in Bern 1984–2024. 140 Seiten, CHF 20.-, zu bestellen bei info@haus-der-religionen.ch. ISBN 978-3-033-10493-8