Wo sich jährlich Dutzende von Paaren die Hand reichen

Kulturgeschichte

Das Würzbrunnen-Kirchlein im Emmental hat geradezu Kultstatus: als Hochzeitskirche, aber auch als geheimnisvoller Ort der Kraft und alter Überlieferungen.

Wohl keine Kirche im Emmental ist bekannter als das Würzbrunnen-Kirchlein. Das eher kleine, aber markante Bauwerk steht allein auf einer grossen, flachen, von Wald gesäumten Wiese ob dem Dorf Röthenbach, das unten im Tal über ein zweites Gotteshaus verfügt. Die Kirche Würzbrunnen gilt als die Mutterkirche des Emmentals und hat durch die Gotthelf-Verfilmungen des Burgdorfer Regisseurs Franz Schnyder (1910–1993) nationale Bekanntheit erlangt, die bis heute andauert. Entsprechend handelt es sich um eine der beliebtesten Hochzeitskirchen im Kanton Bern und darüber hinaus.

Es ist Frühsommer und die Saison der Vermählungen in vollem Gang. Für die Reservationen zuständig ist Sabine Engel. Sie hat eine tiefe persönliche Beziehung zu diesem kulturhistorisch bedeutsamen Bau. «Wenn ich einmal ein bisschen Ruhe brauche, sitze in die Kirche und tanke Kraft», erzählt sie. «Es ist für mich ein sehr besonderer Ort, ein richtiger Kraftort.» Beim Planen und Errichten dieser Gebäude sei in alten Zeiten oft ein Wissen eingeflossen, von dem heutige Menschen keine Ahnung mehr hätten. Vielleicht sei das ja mit ein Grund, weshalb das Kirchlein eine solche Ausstrahlung habe und sich immer wieder Menschen für eine Hochzeit in Würzbrunnen entschieden.

Wenn ich einmal ein bisschen Ruhe brauche, sitze in die Kirche und tanke Kraft.
Sabine Engel, Würzbrunnen-Kennerin

Sicher aber spielt Jeremias Gotthelf eine gewichtige Rolle. «Wenn am Fernsehen ein alter Gotthelf-Film gezeigt wird, kommen daraufhin immer einige Hochzeitsreservationen mehr herein», berichtet Sabine Engel. Die Hochzeitspaare stammten nicht nur aus dem Emmental und angrenzenden Gebieten, sondern auch aus anderen Kantonen, in einzelnen Fällen sogar aus dem Ausland, letztere meist mit Wurzeln in der Region. Die hohe Zeit der Hochzeiten sei zwischen März und Oktober, in besagtem Halbjahr fänden im Würzbrunnen-Kirchlein jeweils zwischen 20 und 30 kirchliche Trauungen statt.

Früher standen die Paare Schlange

Für heutige Verhältnisse ist dies eine stattliche Frequenz, im Vergleich zu früher fällt sie aber eher bescheiden aus. «Noch vor vielleicht 30 Jahren sind die Leute buchstäblich Schlange gestanden», sagt Engel. Damals seien an einem Samstag schon mal sechs bis sieben Hochzeitspaare nacheinander in Würzbrunnen vor den Pfarrer getreten. Der aktuell rückläufige Trend liege, wie überall, in den säkularen Zeiten – und auch in der zunehmenden Gepflogenheit, sich das Jawort unter freiem Himmel zu geben.

Die Kirche Würzbrunnen hat aber nicht nur Heiratslustigen, sondern auch kunsthistorisch Interessierten einiges zu bieten. Die Anfänge der Kirche gehen nach neuesten Erkenntnissen auf das 10. oder 11. Jahrhundert zurück, also in die Zeit der mittelalterlichen, durch lokale Adlige vorangetriebene Besiedlung des Emmentals. An einer damaligen Verbindung von Thun nach Burgdorf gelegen, wurde die Wallfahrtskirche auf der hoch gelegenen Ebene von Würzbrunnen rege aufgesucht. Geweiht war sie dem heiligen Stephanus.

Frisches Wasser aus der Tiefe

Was genau Gegenstand der Verehrung war, eine Reliquie, ein wundertätiges Bild oder ein Heilbrunnen, ist nicht überliefert. Der Name Würzbrunnen – beziehungsweise Urchenbrunnen, wie er in einer älteren Form lautet – könnte auf «bis zu den Wurzeln» reichendes, ursprüngliches, frisches und vielleicht sogar heilkräftiges Wasser hindeuten.

Nach einem Brand 1494 wurde die Kirche Würzbrunnen in heutiger Gestalt wieder aufgebaut. Im Zuge der Berner Reformation 1528 stellte die Obrigkeit die Wallfahrt ein, aber die Kirche als solche blieb bestehen. Im Kunstführer Emmental (Jürg Schweizer, 1982) wird sie als «reizvolle romanische Anlage mit reicher spätgotischer und spätbarocker Ausstattung» gewürdigt. An den Innenwänden sind in barocker Ausführung Sprüche und Zierelemente aufgemalt, und die Holzdecke ist mit ornamentalen Schnitzereien versehen. An der nördlichen Chorwand zeigen sich überdies die Reste einer spätgotischen Malerei.

Der Nebel des Rätselhaften

Hochwertige, im Lauf der Zeit jedoch verblasste gotische Fresken sind auch an der westlichen Aussenwand zu sehen: links der Eingangspforte der gemarterte Christus, rechts der heilige Christophorus und über der Tür die Steinigung des heiligen Stephanus. Unter dem breiten, schindelgedeckten Dach der Vorhalle hängt ein altes Wolfsnetz. Es diente wohl nicht nur der Wolfsjagd, sondern vermutlich auch als symbolische Abwehr gegen das Böse. Warum sonst sollte es ausgerechnet im Eingangsbereich einer Kirche angebracht sein, deutlich sichtbar für all die dämonischen Wesen und gefallenen Engel, die sich einst in der Vorstellungswelt der Menschen tummelten?

Apropos Wolf: Auf den alten tönernen Bodenfliesen im Inneren der Kirche sind mehrere Spuren von Tieren auszumachen, die sich seinerzeit auf den frischen, noch ungebrannten Ziegeln verewigt haben. «Noch als Kind habe ich gehört, dass es angeblich eine Wolfsspur und diese ein Schutz gegen den Teufel sei», sagt Sabine Engel – und fügt an, dass es über den Ort noch viel zu erzählen gäbe und manches auch schon in Vergessenheit geraten sei.

Auch der Berner Altertumsforscher Albert Jahn berichtet in seiner 1865 erschienenen Schrift «Emmentaler Altertümer und Sagen» allerlei Geheimnisvolles über Würzbrunnen. So solle dort einst zu «heidnischer» Zeit eine Stadt und ein Tempel gestanden haben, umgeben von einem «Götzenhain». In diesem Wald seien, um 1750 herum, beim Holzfällen und Ausroden der Wurzelstöcke uralte Ziegelstücke, Opfermesser und verrostete Handschellen ausgegraben worden, von denen die Finder annahmen, dass sie einst zum Fesseln der zu opfernden Menschen gedient hatten. Diese Deutung versah Jahn zwar mit einem grossen Fragezeichen, aber er interpretierte die – bereits zu seiner Zeit verschollenen – Fundstücke immerhin als Hinweis auf eine keltische Siedlung rund um ein vorchristliches Heiligtum.

Unsichtbare Hände am Werk

Dass sich um einen so geheimnisvollen Ort auch eine Sage rankt, verwundert nicht. Hermann Wahlen hat sie in seinem Band «Emmentaler Sagen» (1962) zu Papier gebracht. Die Stadt, die sich laut der volkstümlichen Überlieferung auf der Anhöhe von Würzbrunnen befunden haben soll, sei einst in einen blutigen Krieg verwickelt gewesen. Der Feind habe den Ort mit brennenden Pfeilen beschossen und in Brand gesteckt. «Bis uf d’ Würze abeb’brunne» sei die Stadt, also niedergebrannt bis auf die Wurzeln. Das habe zum Namen «Würzbrunnen» geführt.

Die Kirche aber sei von den Flammen wundersam verschont geblieben und deshalb zu einem Wallfahrtsort geworden. «Viele hundert Jahre nach der Zerstörung der Stadt beschlossen die Bewohner des Tales, das Kirchlein zu Würzbrunnen abzubrechen und es drunten in Röthenbach neu erstehen zu lassen», schreibt Hermann Wahlen. Das Unterfangen aber scheiterte. Was die Handwerker tagsüber unter grossen Mühen ins Tal hinabgeschafft hatten, trugen des Nachts unsichtbare Hände wieder an den alten Ort zurück. «Und so ist es gekommen, dass das Kirchlein zu Würzbrunnen, dieses bauliche Kleinod des Oberemmentals, der lieblichen Landschaft erhalten geblieben ist.»