Politik 21. Mai 2024, von Cornelia Krause

«Wir haben fast vollständig auf Nothilfe umgestellt»

Krieg

Die Arbeit des Heks in den palästinensischen Gebieten hat sich stark geändert. Mitarbeitende von Landesdirektor Hakam Awad arbeiten in Flüchtlingscamps, in denen sie selbst leben.

Das Massaker der Hamas und der Start von Israels Offensive im Gazastreifen liegen sieben Monate zurück. Sie leben in Jerusalem. Was hat sich für Sie selbst verändert?  
Hakam Awad: Das Gefühl von Sicherheit ist verloren gegangen. Anfangs trauten sich die Menschen kaum auf die Strasse. Auch die Bewegungsfreiheit ist seit dem 7. Oktober 2023 eingeschränkt, es ist schwieriger, von Ost- nach Westjerusalem zu gelangen. Und ich sorge mich ständig um meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die unserer Partnerorganisationen im Gazastreifen.

Wir sprechen, eine Woche nachdem Israel Evakuierungen in Rafah angeordnet hat. Viele Hilfsorganisationen waren dort aktiv. Was bedeuten die Evakuierungen für Sie?
Wir erreichen unsere Räume in Rafah nicht mehr, daher mussten wir uns neu organisieren. Im Osten der Stadt waren unsere Partnerorganisationen gezwungen, die Arbeit weitgehend einzustellen. Eines unserer Teammitglieder lebte in Rafah und musste sich in Sicherheit bringen. Alle unsere drei Mitarbeitenden, die im Gazastreifen wohnten, haben ihre Häuser verlassen, sie leben jetzt in Flüchtlingsunterkünften im Süden oder fanden bei Verwandten Unterschlupf. 

Hakam Awad, 36

Hakam Awad, 36

Der Palästinenser arbeitete in der Finanzbranche, bevor er 2018 die Leitung des Heks-Büros in Jerusalem übernahm. Dort ist er derzeit für neun Mitarbeitende verantwortlich. Das Hilfswerk der evangelisch-reformierten  Kirche Schweiz (Heks) hat sich in den vergangenen Jahren unter anderem  für eine starke Zivilgesellschaft eingesetzt. Mit Partnerorganisationen  förderte es in den palästinensischen Gebieten zudem Projekte für Start-
up-Unternehmerinnen und Unternehmer und half Bauernfamilien, den  Zugang zu ihrem Land zu erhalten.

Hunderttausende Menschen in Rafah sollen in sogenannte humanitäre Zonen umsiedeln. Können sie dort angemessen versorgt werden?
Diese Umsiedelung bedeutet grosses Leid für Familien, insbesondere für Frauen und Kinder. Viele müssen bereits seit Monaten von einer überfüllten Unterkunft zur nächsten ziehen. Die von Israel angedachten Zonen beinhalten zerstörte Gebiete und Gebiete ohne Infrastruktur, sie sind daher ungeeignet.

Wie ist die Lage in den restlichen Gebieten des Gazastreifens?
Katastrophal. Das Gesundheitswesen ist völlig überlastet, mehr als die Hälfte der Krankenhäuser sind geschlossen. Es mangelt an Medikamenten, Equipment, oft an Benzin, das es braucht, um Strom zu erzeugen. Der Druck auf das Gesundheitspersonal ist hoch, das zeigen allein die Opferzahlen. 34 000 Menschen wurden getötet, 70 000 verletzt.

Diese Zahlen stammen von Gesundheitsbehörden, welche die Hamas kontrolliert. Sind sie glaubwürdig?
Ich glaube schon. Ich kenne nicht eine Person im Gazastreifen, die keine Angehörigen oder Freunde verloren hat. Auch wenn man das Ausmass der Zerstörung anschaut, sind die Zahlen plausibel. Hielten Organisationen, die im Gazastreifen tätig sind, diese Angaben für zweifelhaft, würden sie widersprechen. Gewissheit werden wir wohl jedoch erst nach Kriegsende haben. 

Wir arbeiten mit Partnerorganisationen zusammen, auch deren Mitarbeitende mussten aber flüchten, manche verloren ihr Leben.

Wie steht es um die Versorgung  mit Nahrungsmitteln?
Zu Beginn der Offensive war die Lage dramatisch, es gelangten zeitweise gar keine Lebensmittel in den Gazastreifen, danach nur ein Bruchteil dessen, was normalerweise geliefert wurde. Im Süden gab es zwar Verbesserungen, aber an einigen Orten herrscht eine Hungersnot.

Wie geht es den Menschen im Norden, die nicht geflohen sind?
Der Norden ist Sperrgebiet, die Leute sind von der Versorgung weitgehend abgeschnitten. Nur spezielle Konvois, vom Roten Kreuz oder der UNO, dürfen dorthin. Die Familie einer unserer Mitarbeitenden blieb, sie traut sich kaum aus dem Haus. Diese Familie hat noch Glück, denn sie besitzt eine Bäckerei und hat daher Mehl. Dafür fürchtet sie sich vor Plünderungen.

Bislang engagierte sich das Heks in der Region vor allem im zivilgesellschaftlichen Bereich. Was bedeutet der Krieg für diese Projekte?
Projekte wie die berufliche Förderung von palästinensischen Jugendlichen sind sistiert. Bei vielem, was wir aufgebaut haben, werden wir wieder bei null anfangen müssen. Wir haben fast vollständig auf Nothilfe umgestellt. Das Heks liefert Tonöfen in Flüchtlingscamps, hilft beim Bau von Toiletten und bei der Wasserversorgung. 


Wie helfen Ihre Mitarbeiter, wenn sie selbst in Not sind?
Wir arbeiten mit Partnerorganisationen zusammen, auch deren Mitarbeitende mussten aber flüchten, manche verloren ihr Leben. Die Art, wie die Organisationen funktionieren, hat sich radikal geändert. Weil Mitarbeitende selbst in Camps leben, wirken sie oft im nächsten Umfeld. Zudem erhalten sie Aufträge von der UNO, etwa Listen mit Familien, die Hilfe brauchen.

Im Völkerrecht gibt es das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Schaut man sich an, wie viele Menschen sterben, ist diese nicht mehr gegeben.

Das Heks hat auch im Westjordanland Projekte. Was geschieht dort?
Auch da gibt es viel Gewalt – durch Siedler, aber auch Zusammenstösse mit der israelischen Armee. 400 Palästinenser wurden in den vergangenen Monaten getötet, 7000 festgenommen, und die Armee hat viele Strassen gesperrt. Wir unterstützen Bauernfamilien bei der Bewirtschaftung ihrer Felder, damit sie ihr Land nicht verlieren. Nun ist es für sie noch schwieriger, zu ihren Anbaugebieten zu gelangen. Wegen der Gewalt leisten wir psychologische Unterstützung, so wie wir das auch im Gazastreifen tun.

Die Gefahren für NGOs sind enorm, wie gehen Sie damit um?
Wir wenden viel Zeit für die Koordination auf, auch mit der UNO. Das Problem ist: Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen. Nicht einmal Schulen oder Spitäler sind vor israelischen Bomben sicher, dabei sollten diese geschützt sein.

Israel wirft der Hamas vor, sich dort zu verstecken.
Selbst wenn das so wäre, gibt es im Völkerrecht noch das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Schaut man sich an, wie viele Menschen sterben, ist diese nicht mehr gegeben.

Das Heks gibt sich in offiziellen Statements neutral. Sie sind Palästinenser: Ist Neutralität realistisch?
Es ist nicht immer einfach. Unser Team besteht aus Palästinensern und Israelis. Wir hören einander zu, analysieren den Konflikt, stellen Emotionen hintenan und nutzen unseren Verstand. Wir sind uns einig, dass der Konflikt nur gelöst werden kann, wenn das Problem an der Wurzel gepackt wird. Wir wissen, dass Völkerrechtsverletzungen auf beiden Seiten kontraproduktiv sind. Das sind wichtige Positionen, die wir teilen. 

In israelischen Fernsehsendungen sehen meine Kinder, wie Palästinenser als Tiere beschimpft werden.

Sie sind wegen eines Films, in dem das Heks die Arbeit des israelischen Filmemachers Michael Kaminer zeigt, in Zürich. Im Film ist das Anerkennen des Leids der anderen Seite ein Kernthema. Der Film, vor dem Krieg gedreht, wirkt wie  aus der Zeit gefallen. Warum sollte man ihn sich noch anschauen?
Er ist wichtiger denn je. Michael Kaminer hat einen Film über seinen Kibbuz gedreht, der auf Boden gegründet wurde, von dem zuvor Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben worden waren. Er zeigt die Auswirkungen der Vertreibung auf nächste Generationen. Nun verlieren wieder Hunderttausende Menschen ihre Häuser.

Und die junge Generation auf beiden Seiten ist traumatisiert.  Welche Chancen haben da Frieden und Versöhnung?
Die Voraussetzungen sind schwierig. In israelischen Fernsehsendungen sehen meine Kinder, wie Palästinenser als Tiere beschimpft werden. Im palästinensischen Fernsehen wiederum werden ihnen Bilder der Zerstörung gezeigt. Aber schauen wir uns die Geschichte von Konflikten und Kriegen an, so wissen wir, dass sie irgendwann einmal enden. Ich habe Hoffnung, sonst würde ich meine Arbeit nicht machen und mich jetzt nicht mit Ihnen darüber unterhalten.