Antworten auf den Konsum-Kapitalismus

Theologie

Néstor Miguez ist ein bedeutender Befreiungstheologe. Weil weiterhin Arme und Schwache unterdrückt würden, sei Befreiungstheologie nach wie vor aktuell.

«Man muss die Hoffnungen und Probleme der Leute kennen», sagt Néstor Miguez. «Theologie braucht diesen Faden zum Boden, sonst fliegt der theologische Ballon weg, und Theologie wird abstrakt und unverständlich.» Der emeritierte Professor für Neues Testament des universitären Instituts Isedet in Buenos Aires arbeitete über fünfzig Jahre als Pfarrer in der methodistischen Kirche Argentiniens; er gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Befreiungstheologie auf evangelischer Seite.

Miguez war bereits als Student politisch und sozial aktiv. Als Anführer der Studentenbewegung engagierte er sich während der Militärdiktatur für die Anliegen der Studierenden. Um möglichen Problemen aus dem Weg zu gehen, entschloss sich Miguez, sein Zweitstudium der Soziologie abzubrechen. Die Gefahr einer Festnahme wurde mit der Zeit zu gross.

Antworten auf Kapitalismus

Sein Engagement für die Benachteiligten hielt ein Leben lang an. Als Pfarrer in verschiedenen Regionen des Landes pflegte er Kontakt zu allen Schichten der argentinischen Gesellschaft, auch zu den Basisgemeinden (siehe Kasten). «Befreiungstheologie wächst aus moralischer Empörung, wenn sich Menschen der Unterdrückung anderer entgegenstellen», sagt Miguez in einer Pause des ökumenischen Bibelseminars in Bern, an dem er über das Buch Johannes im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie referiert. Befreiungstheologie bleibe aktuell, denn die Unterdrückung der Armen und Schwachen dauere weiter an.

«Die Befreiungstheologie muss aber neue Antworten auf die heutigen Herausforderungen finden», sagt Miguez. «Die Welt ist zu einem riesigen Markt geworden, in dem der Konsum die Menschen definiert: Sag mir, was du kaufst, und ich sage dir, wer du bist.» Jene, die sich an diesem Markt nicht beteiligen könnten, würden durch das System fallen – und das seien sehr viele Menschen. «Wie können wir die Botschaft Jesu, der die Händler aus dem Tempel verbannte, heute den Menschen vermitteln?», fragt Miguez.

«Wenn wir keine Antworten auf diesen ‹Konsum-Kapitalismus› finden, enden wir in einer Katastrophe», ist der Theologe überzeugt, denn: «Wir zerstören die Menschheit und die Schöpfung.» Diesem Ausmass des Konsums könne die Natur nicht standhalten. Aus diesem Grund sorgt sich Miguez um seine neun Enkelkinder. Ihre Zukunft sei in Gefahr.  «Sie sind meine grösste Sorge und zugleich meine grösste Freude.»

Unter der Militärdiktatur

Néstor Miguez stammt aus einer Einwanderfamilie. Seine katholischen Grosseltern sind aus Italien, Spanien und Holland emigriert. In Argentinien konvertierten sie zum Protestantismus. Solche Konversionen wie auch die Einwanderung von europäischen Protestanten liessen Anfang des 20. Jahrhunderts die evangelischen Kirchen in Argentinien anwachsen. Heute machen sie elf Prozent der dortigen Gesellschaft aus.

Im Gespräch betont Miguez, wie seine Familie seine Theologie beeinflusst habe. Vor allem seine Frau sei seine engste Begleiterin. «Alles, was ich durchgemacht habe, musste auch meine Frau ertragen.» Zahlreiche Freunde und Verwandte von Miguez sassen während der Militärdiktatur im Gefängnis, wurden gefoltert oder sind verschwunden. «Mein Name stand auf der Festnahmeliste, aber ich hatte Glück», sagt er. Im Gefängnis war er nie.

Als Mitglieder seiner Gruppe festgenommen wurden, war er im Ausland. Zurück in der Heimat, mietete er eine separate Wohnung. «Ich wollte nicht, dass meine Kinder Zeugen von Gewalt werden, wenn man mich nachts zu Hause festnimmt.» Das sei die schwierigste Zeit seines Lebens gewesen.

Befreiungstheologie in Lateinamerika

Die Befreiungstheologie verbreitete sich in den 1960er- und 70er-Jahren in Lateinamerika über Basisgemeinden in Armenvierteln unter landlosen Bäuerinnen und Bauern und Landarbeitern. Sie bezogen die biblische Botschaft auf ihre eigene Situation, um daraus eine gesellschaftliche Hoffnungsperspektive zu entwickeln. Die Bewegung gründet auf der biblischen Verheissung, dass Gott sein Volk von Ausbeutung und Unterdrückung befreie. Ziel der Befreiungstheologie war eine soziale Veränderung der Gesellschaft. Viele Befreiungstheologen waren erheblichen Repressionen ausgesetzt, einige wurden umgebracht.