Aufgehoben sein in der Offenheit

Gemeindeleben

176 Kirch­­gemeinden gibts im Kanton Zürich. Äusserst lebendig geht es in Bä­rets­wil im Zürcher Oberland und in Thalwil am Zürichsee zu und her.

Unter Buchen und Fichten am mit Schlüsselblumen übersäten Waldrand lässt Katechetin Monika Deuber an diesem Mittwochnachmittag das Heilige Land mit Olivenbäumen und Palmen auferstehen. An verschiedenen Stationen erzählt sie den rund 40 Schülerinnen und Schülern vom Leidensweg Jesus.

Die Leiterin der Katechetinnen der Kirchgemeinde Thalwil hat vor drei Jahren ein Pionierprojekt gestartet. Statt in geschlossenen Klassenräumen verwandelt sie Wald und Wiesen zum Klassenzimmer. Die Idee hat gezündet: Die grosse Mehrheit der reformierten Drittklässler beteiligt sich am Religionsunterricht im Freien.

Diese eher fortschrittliche Unterrichtsform passt zu Thalwil. Die Agglo-Gemeinde ist nur neun Kilometer von Zürich entfernt. Mit knapp 18 000 Ein­wohnern ist die Gemeinde am linken Zürichseeufer bereits Stadt. Das Aufgehobensein in einer dörflichen Gemeinschaft mit städtischen Rundum-Angeboten charakterisiert die Kirchgemeinde.

«Wir haben hier eine grosse Palette von Angeboten für Kinder und Jugendliche», sagt Jeanne Grubenmann, deren Tochter am Open-Air-Unterricht teilnimmt. Die dreifache Mutter ist selber kirchlich aktiv. Sie macht in der Vorbereitungsgruppe für den Geschichte-Gottesdienst für kleine Kinder mit. Aber sie ist auch beim «Chranzen» in der Adventszeit, beim Mittagstisch dabei sowie ihre Kinder bei den Tageslagern in den Ferien. Was ihr die Gemeinde bedeutet? Grubenmann: «Die Kirche ist offen für alle, für Katholiken oder Nicht-ganz-so-Fromme. So hat sie es geschafft, ein ganz wichtiges soziales Netzwerk für Thalwil zu sein.»

Letztlich kommt es auf «Gottes Funke» an

In Bäretswil schauen zwei Dutzend Kinderaugen auf Eule Lea. Sie sei extra aus dem Kirchenturm gekommen, um eine Geschichte zu erzählen, erzählt Lea dem staunenden Publikum. Die Handpuppe hilft dem «Fiire mit de Chliine»-Team, zu dem auch Judith Fiedler gehört, den Kindergottesdienst zu gestalten.

Die gelernte Klavierbauerin und Mutter von drei Kindern engagiert sich mit Herzblut in der Kirche. Sie sagt: «Ich will Jesus erlebbar machen, Gemeinschaft leben und ganz praktisch mithelfen können.» Sie gehört zum Team «Chrabbelnästli», das am Sonntagmorgen eine «Chinderhüeti» anbietet, sie hilft, das «Fiire mit de Chliine» und den «Mite­nand-Gottesdienst» zu gestalten.

Kirche ist für sie nicht nur der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Sondern die Gemeinschaft mit Gott und mit Menschen. Ein Teil spiele sich am Sonntag ab, ein anderer, für sie ebenso wichtiger Teil, unter der Woche, bei Einkaufen, Elternabend und bei Kinderverabredungen. Denn: «Was im Alltag nicht funktioniert, hat keinen Bestand.»

Bäretswil zählt knapp 5000 Einwohner. Die kleine Gemeinde liegt in den Hügeln des Zürcher Oberlands. Von den rund 2500 Reformierten engagieren sich etwa 200 ehrenamtlich; 120 besuchen am Sonntag die Kirche – eine Kirche wohlgemerkt, die stark vom kantonalen Finanztopf abhängig ist.

Was zeichnet die Bäretswiler Kirche aus? Fiedler erklärt es so: «Die Vielfalt an Menschen, die sich unter einem Dach begegnen. Die vielen Ehrenamtlichen, welche die Aktivitäten auf viele Schultern verteilen. Eine gewisse Offenheit für Neues auch.» Aber schlussendlich brauche es «Gottes Funke», damit die Gemeinde lebt. Fiedler gehörte eine Zeit lang einer freikirchlichen Bewegung an; heute fühlt sie sich bei den Bäretswiler Reformierten bestens aufgehoben. Nicht zuletzt wegen des eigenen Stils von Pfarrerin und Querdenkerin Sabrina Müller, die das Gemeindeleben massgeblich geprägt hat. «Christliche Spiritualität im Alltag leben», lautet deren Konzept. Die «wandernde Kirchenbank», die unterdessen in über zwanzig Gemeinden unterwegs war, hat Müller erfunden.

Sie verstehe sich nicht als Mittelpunkt der Gemeinde. Vielmehr wolle sie alle miteinbeziehen, die sich betätigen wollen, erklärt sie im Gespräch. So kam schon vor, dass Gemeindemitglieder wie Judith Fiedler statt ihrer auf der Kanzel standen und predigten. Die Lebendigkeit ihrer Kirchgemeinde habe aber auch mit der Besonderheit des Zürcher Oberlandes zu tun. «Ein starker pietistischer Flügel trifft hier auf eine grosse Offenheit».

Ehemalige Könfler gestalten den Konf-Unterricht

Pfarrerin Sabrina Müller war es auch, die für Bäretswil das sogenannte Konf-Team entwickelt hat. Ehemalige Konfirmanden gestalten und leiten zusammen mit der Pfarrerin und/oder einem Jugendarbeiter den kirchlichen Konf-Unterricht; alle zwei Wochen bereiten sich die jungen Leute zwischen 17 und 30 Jahren darauf vor – wie an diesem Dienstagabend. Das Thema heute: Die Organisation des bevorstehenden Konf-Lagers.

Zum Einstieg ein gemeinsames Gebet, das die «Könfler» gleich miteinschliesst. «Möge der Unterricht Spuren in ihrem Leben hinterlassen», sagt Jugendarbeiter Marcel Sharma. Mit von der Partie ist auch Céline. Die 18-Jährige macht das KV in einem Medienunternehmen und ist schon das zweite Jahr im Konf-Team dabei. Es bedeute ihr viel, vor allem, weil sie hier neue Freundschaften geschlossen habe. Kirche – das ist für sie nicht der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Sondern allem voran Gemeinschaft und der «Austausch mit Gleichgesinnten». Sie mag es ausserdem, als Leiterin einer Konf-Klasse Verantwortung zu übernehmen. Mitzuerleben, «wie die Teenager ihren Glauben entwickeln und sie dabei zu begleiten».

Céline stammt aus einer «gar nicht gläubigen Familie». Nach der Sekundarschule verbrachte sie ein Jahr bei einer Gastfamilie in den USA. Diese besuchte jeden Sonntag eine Kirche, die ihr zusagte. «Lustig und fröhlich» sei es dort zu und her gegangen, da habe man auch mal Zwischenrufe gehört wie «Amen». Diese Erfahrung in Kombination mit dem Konf-Unterricht war für die Bäretswilerin ausschlaggebend, sich auf die Suche nach dem eigenen Glauben zu machen.

Auf die Gemeinschaft kommt es vor allem an

Etwas nüchterner ist der Konfirmationsunterricht in Thalwil; heute ist das Thema «Sucht» angesagt. Gebetet wird nicht. Die Jugendlichen suchen sich aus einer Vielzahl von am Fussboden hingelegten Papierstreifen je zwei heraus mit Begriffen wie etwa «Magersucht» oder «Drogensucht». Anschliessend wird darüber diskutiert. Tobias Graf ist einer der Schüler. «In den Konfunti gehe ich lieber als in die Schule», erzählt der 15-Jährige. «Solche Diskussionen über Sucht sind lebendiger als trockener Schulstoff. Sind näher am Alltag. Die Themen sind auf unsere Interessen ausgerichtet.»

Dies ist es, was Tobias Graf an die Gemeinde Thalwil bindet, in der er seit zwölf Jahren lebt. Tagsüber geht er zwar ins Gymnasium Freudenberg in Zürich und hat dort auch einige Kollegen gewonnen. «Aber Zürich ist gross und anonym. Dort sagt mir zum Beispiel niemand hallo. Hier in Thalwil schon, da gehe ich Fussball spielen, da sind die Leute auch auf den Strassen freundlich. Hier ist der Ort, wo die Menschen für mich da sind – meine Familie und Kollegen.»

Etwa alle drei Wochen besuche er den Gottesdienst, sagt Tobias, der sich selbst als «mittelmässig gläubig» bezeichnet. Die Kirche, so ist er überzeugt, verbindet die Menschen, schafft Gemeinschaft. Vor und nach dem Gottesdienst komme er mit Leuten jeweils ins Gespräch. Auch mit älteren Menschen. Das gefällt ihm, «die haben schon Erfahrung und wissen, auf was es im Leben ankommt».

Geborgenheit, das ist es, was die Gemeinde den Menschen zu geben scheint; auf dem Land und in der Stadt. Und diese findet sich insbesondere auch in der Musik: Hansruedi Jöhr ist Chormitglied in Bäretswil, der zusammen mit Bauma rund 70 Mitglieder zählt. Einmal in der Woche trifft man sich zur Probe, wie an diesem Dienstagabend. Für Jöhr (66) ist die Kirchgemeinde «wie eine grosse Familie». Zehn Jahre lang war er in Bäretswil als Kirchenpflegepräsident tätig. Seit seiner Pensionierung engagiert sich der ehemalige Obenstufenlehrer vielfältig in der Gemeinde. «Mädchen für alles» sei er, sagt er schmunzelnd. Er organisierte zum Beispiel das Jubiläum für das 125-jährige Bestehen des Chors, er führt das Notenarchiv oder zwischendurch auch mal das «Kirchenkafi». Für ihn gehört der sonntägliche Gottesdienst selbstverständlich dazu. «Hier werde ich gestärkt und kann in mich kehren.»

Dennoch sagt er, wie alle Befragten aus Bäretswil: «Der Kirchenraum ist nebensächlich. Kirche ist dort, wo man sich trifft.» In seiner Gemeinde schätzt er besonders, dass nicht nur der Pfarrer eine elementare Rolle spiele, sondern auch andere Mitglieder Verantwortung übernehmen. Dies trage dazu bei, dass die Gemeinde lebt. In Bäretswil spüre man, «dass Gott am Werk ist».

Die Gemeinde Bäretswil sei äusserst aktiv. Selber kam er über seine aus einem frommen Elternhaus stammende Frau dazu; er sei langsam in die Gemeinde «hineingewachsen». Regelmässig nimmt er an Bibelgesprächskreisen teil.

Was in seinem Amt als Kirchenpflegepräsident nicht immer einfach war: «Den evangelikalen und den traditionellen Teil der Gemeinde zusammenzuhalten». Mit Marc Heise und Sabrina Müller habe man nun ein Pfarrteam in Bäretswil, das sehr «offen und tolerant» sei – wie überhaupt die ganze Kirchgemeinde.

Nichts Vereinnahmendes, sondern für alle offen

Mit Herzblut ist auch Gabriela Schöb an den Proben des Kirchenchors im Kirchgemeindehaus Thalwil dabei. Zu Beginn werden die Schultern gekreist, danach mit «la-le-li-lo-lu»-Tönen die Stimmbänder gelockert. Schliesslich wird Andreas Briners Osterkantate «Christ ist erstanden» eingeübt, Passage für Passage.

Gabriela Schöb leitet neben der Kleinen Kantorei, die mit inzwischen rund 40 Mitgliedern so klein längst nicht mehr ist, auch den ökumenischen Kinder- und Jugendchor und den Singkreis. «Musik ist ein grosser Türöffner», sagt Schöb und meint damit, dass Musik für Leute, die in der Zürcher Agglomerationsgemeinde zunächst etwas «fremden», die Hemmschwelle senke, um Kontakte aufzubauen. «Wir machen natürlich keinen Glaubenstest, wenn jemand dem Chor beitreten will», fügt die Kantorin augenzwinkernd an. «Wir singen aber vorwiegend im Gottesdienst.»

Das Kirchenjahr musikalisch zu begleiten, hält Schöb für eine «grosse Bereicherung». Das Leiden Christi etwa auf Karfreitag hin in musikalischer Hinsicht umzusetzen. Man merkt: Ihr ist es wohl in ihrer Aufgabe. Sie wohnt zwar in Wetzikon, richtig gut gefällt es ihr aber in Thalwil. Und insbesondere in der Kirchgemeinde.

«Es ist eine sehr offene, wohlwollende Kirchgemeinde mit tollen Mitarbeitenden, in der ein guter Geist herrscht.» Sie habe nichts Vereinnahmendes, zwinge niemanden zu etwas, das er oder sie nicht wolle. Die Kirchgemeinde betrachtet Schöb vielmehr als eine von mehreren Institutionen, die dafür sorgen, dass sich die Menschen «dorfintern» in dem Ort, der schon längst eine Stadt ist, noch kennen, dass sie verwurzelt oder zumindest verortet sind.

Thalwil: Volkskirche für alle

17 256 Einwohnerinnen und Einwohner zählte Thalwil Ende 2014. Die reformierte Kirche hat 5304 Mitglieder. Sie können auf vier Pfarrstellen und eine weit ge­spannte Palette von Angeboten zurückgreifen. 220 Freiwillige machen es möglich.

Trotz dem lebendigen Gemeindeleben schlägt in Thalwil die Kirchenaus­trittswelle durch (von 1990 7212 Mitgliedern auf 5304 Ende 2014). Die Katholiken liegen mit 5272 Mitgliedern mittlerweile bereits mit den Reformierten gleichauf; Konfessionslose und Angehörige anderer Religionen machen 7034 Personen aus.

Bäretswil: Klein und ländlich

Bäretswil ist eine Gemeinde im Zürcher Oberland. Ende 2014 zählte sie 4993 Ein­wohnerinnen und Einwohner. 2471 sind reformiert, wobei diese Zahl seit 1990 (2528 Mitglieder) relativ konstant ist. 962 sind ka­tholisch. 1560 gehören anderen Konfessionen an.

Der Ausländeranteil beträgt 10,3 Prozent. Das re­formierte Pfarramt ist derzeit mit Sabrina Müller und Marc Heise besetzt. Müller wird das Amt diesen Frühling niederlegen, um sich anderen Projekten zu widmen. Ob die Stelle wieder besetzt wird, ist unklar.