Martin Bieri verunfallte schwer und unterstützt nun andere

Inklusion

Der Verein "Ufstah" ermutigt Menschen nach schweren Unfällen, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Mitgründer Martin Bieri hat selbst Schlimmes erlebt.

Das Filmset ist parat, doch wo bleibt die Hauptdarstellerin? Martin Bieri schaut auf sein Handy. «Sie schreibt, dass sie im Stau steht.» Das Filmteam setzt sich auf die Stühle rund um die Massageliege, den Schauplatz des Films. Sie steht im Ergotherapieraum der Heilpädagogischen Schule in Aarau.

Die Filmcrew ist aussergewöhnlich: Martin Bieri, der Assistent für die Schauspielerin, ist angehender Fahrlehrer. Roger Wintsch, der Regisseur, ist Präsident des Aargauischen Fahrlehrerverbands. Regieassistens Roger Meier arbeitet beim Strassenverkehrsamt. Für heute haben sie noch Filmemacher Jean-David Jamet engagiert. Aber ihre Filme handeln nicht vom Autofahren, sondern von Menschen, die nach Schicksalsschlägen ihren Lebenswillen wiederfanden. Sie sind zu sehen auf der Webseite des Suhrer Vereins «Ufstah». Bieri, Wintsch und Meier gründeten ihn 2019. Ihr Ziel: Körperlich Beeinträchtigte ermutigen einander, ihr Leben wieder selber in die Hand zu nehmen. Durch Besuche, Filme und Informationen.

Youtube-Filme gaben Hoffnung

Auch die Geschichte des Vereins begann mit einem dramatischen Moment. Während das Filmteam auf die Schauspielerin wartet, erzählt Martin von der einen Sekunde im August 2015: «Ich war auf dem Motorrad unterwegs, als plötzlich ein entgegenkommender Autofahrer auf meine Fahrbahn geriet.» Martin erwachte im Spital mit gebrochenem Kehlkopf, einem Schädel-Hirn-Trauma, einem dreifachen Oberschenkelbruch, abgetrenntem linken Unterschenkel und Arm, gebrochenen Rippen und Daumen. Er verspürte keine Lebensenergie mehr.

Doch dann, während seines langen Aufenthalts in der Rehaklinik Bellikon, zeigte ihm seine Tochter Filme auf Youtube. Von Menschen ohne Gliedmassen, beim Skifahren und Wellenreiten. «Ich spürte erstmals Hoffnung.» Und noch etwas gab ihm Kraft: andere Patienten und Patientinnen mit ähnlichen Schicksalen. «Das Gefühl, im selben Boot zu sitzen, half mir sehr. Wir tauschten uns über unsere Gefühle aus und gaben uns Tipps.» Jene Menschen, die schon länger in der Rehaklinik waren, richteten die «Neuen» auf.

Nach monatelangem Training konnte Martin sich Gedanken um seine berufliche Zukunft machen. Er würde – dank einer Prothese  –wieder gehen können, doch der lädierte Arm schränkte ihn ein. Sein  Beruf als Maler kam nicht mehr infrage. Als ihn ein Spezialist der Klinik fragte, was er gern tun würde, sagte Martin: «Autofahren lernen und Fahrlehrer werden, für Menschen mit Handicap.» Der Spezialist fand das eine gute Idee.

Nichts ist unmöglich

Der Besuch an einer Fahrlehrer-Infoveranstaltung fiel jedoch ernüchternd aus. «Der Referent sagte, man könne mit Beinprothesen Fahrlehrer werden, nicht aber ohne linken Arm.» Den Stein ins Rollen brachte ein Anruf der Rehaklinik beim Aargauischen Fahrlehrerverband. Dessen Präsident Roger Wintsch besuchte Martin sofort in Bellikon. «Ich war beeindruckt von seiner ungeheuren Kraft», erzählt er.

Gemeinsam setzten sie sich in Roger Wintschs Auto, umfassend testete er Martins Fähigkeiten. Sein Attest öffnete ihm die Tür zur Fahrlehrerschule. Als auch Wintschs Kollege Roger Meier Martin kennenlernte, beschlossen die drei, ihr Engagement auszuweiten und den Verein «Ufstah» zu gründen. 

Jeder Mensch gehört dazu

Die Schauspielerin ist da. Melanie Zulauf ist 29. Seit einer Blutvergiftung 2017 geht sie auf Prothesen, die Unterarme fehlen. Auch sie wollte erst nicht mehr leben – bis ihr Martin in der Rehaklinik begegnete. Sie sagt: «Er war der erste Mensch, der mir Kraft gab.» Der Film wird zeigen, wie sie in ­einer Mas­sage überlegt, ob sie für ­eine Reise alles eingepackt hat. Im Close-up sieht man erst ihren Rücken und die Hände des Masseurs, dann wird der Blick auf ihren ganzen Körper frei. Die Botschaft: Jeder hat ein Recht, dazuzugehören.

Bevor sich Melanie auf die Liege setzt, sagt sie zu Martin: «Letzte Woche bin ich zum ersten Mal gejoggt!» Er jubelt. «Das müssen wir filmen!»


Der Film ist zu sehen unter www.ufstah.ch