Sie haben die Kurse zur Frühintervention bei psychischen Störungen in die Kirche gebracht. Warum ist es so wichtig, Betroffene möglichst rasch zu unterstützen?
Helena Durtschi: Weil frühzeitiges Erkennen sowie rasche Hilfe chronischen Verläufen vorbeugen. Damit wird das Psychiatriesystem entlastet. Menschen mit psychischen Leiden ziehen sich oft zurück, wollen nicht auffallen und niemandem zur Last fallen. Dabei weiss man heute, dass psychische Störungen das Suizidrisiko massiv erhöhen.
Zu erkennen, dass jemand leidet, und die Person darauf angemessen anzusprechen, kann also buchstäblich Leben retten?
Absolut, die allermeisten Menschen mit Suizidgedanken wollen nicht sterben. Sie möchten sich eigentlich jemandem anvertrauen, können es aber nicht. Da oftmals hinter psychischen Problemen drängende spirituelle Fragen stehen wie etwa die Frage nach dem Sinn des Lebens, ist es richtig, dass die Kirche ihr Angebot bekräftigt: Mit uns kann man über existenzielle Themen reden.
Sich als psychisch «krank» zu outen, fällt vielen schwer. Zwar kann eine Diagnose etwas entlasten. Das Risiko einer Stigmatisierung bleibt aber bestehen, oder?
Leider! Dabei gehören psychische Leiden seit jeher zum Menschen. Auch in der Bibel gibt es zahlreiche Beispiele dafür. Der besessene Gerasener mit dem «unreinen» Geist (Mk 5,1–13) leidet nicht nur unter seiner Krankheit, sondern vor allem unter der damit verbundenen Stigmatisierung. Es ist ja kaum ein Zufall, dass Jesus in dieser und anderen Heilungsgeschichten Menschen mit körperlichen und psychischen Leiden nicht irgendwo im Hinterzimmer heilt, sondern dort, wo es alle sehen können. Damit zeigt er, dass Kranksein zum Leben gehört.
Trotzdem haben psychisch Kranke auch heute noch kaum eine Lobby.
Umso wichtiger ist das Engagement der Kirche, damit Betroffene nicht weiterhin rechtlich benachteiligt und sozial ausgegrenzt werden.
- Die Theologin und Sozialarbeiterin Helena Durtschi ist Fachmitarbeiterin Bildung bei der reformierten Landeskirche Bern.