Recherche 23. Februar 2023, von Nadja Ehrbar, Katharina Kilchenmann

Wenn die Seele leidet, ist Nichtstun immer falsch

Gesundheit

Psychische Probleme erkennen, ansprechen und Erste Hilfe leisten: Dazu befähigen die Ensa-Kurse aus Australien. Die reformierte Kirche bietet sie nun auch in der Schweiz an.

Miriam hat sich vor drei Monaten von ihrem Mann getrennt. Seither hat sie sich sehr verändert. Ihre Lebensfreude scheint wie weggeblasen. «Mein Alltag ist nur noch grau, ich habe auf nichts mehr Lust», sagt sie. «Ich kann nicht mehr.»  

Ein Nachbar sitzt neben ihr. Weil er sich Sorgen macht, hat er sich bei ihr zum Kaffee eingeladen. Sie erzählt, dass sie schon daran gedacht habe, sich das Leben zu nehmen. Er horcht auf, doch es fällt ihm schwer, über Suizid zu sprechen. Miriam bräuchte dringend Hilfe. Und zwar von Fachleuten, die sich mit psychischen Krankheiten auskennen.

Miriam und ihr Nachbar gibt es so nicht. Die Frau und den Mann, welche die Rolle spielen, hingegen schon. Sie sitzen in einem Erste-Hilfe-Kurs in Zürich. Doch in diesem Kurs geht es für einmal nicht darum, Blutungen zu stillen oder eine Herzmassage zu machen. Sondern darum, genau hinzuhören und zu erkennen, wann eine Person unter psychischen Problemen leidet und entsprechende Hilfe braucht.

Stark betroffen sind vor allem Junge

Seit 2021 liegt der Anteil an neuen Fällen von psychischer Erkrankung schweizweit bei jährlich rund 30 Prozent. Zwischen 2016 und 2020 waren es nur sechs Prozent. Von der Zunahme hauptsächlich betroffen sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Vor allem bei Mädchen und jungen Frauen nehmen die Spitaleinweisungen wegen Selbstverletzung oder Suizidversuchen stark zu. 

Generell sind in der Schweiz Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen weitverbreitet. Rund eine Million Menschen nehmen regel-mässig Psychopharmaka. Die psychiatrische Versorgung, sowohl stationär als auch ambulant, läuft am Limit, und es mangelt an psychologisch geschultem Fachpersonal.

Für Helfende: Website mit EKS-Ensa-Informationen.
Für Hilfesuchende: Dargebotene Hand, Telefon 143; Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche), Telefon 147

Überforderte Helfende

Tatsächlich ist jede zweite Person in ihrem Leben ein- bis zweimal von psychischen Problemen betroffen. Junge Menschen leiden besonders. Es fällt ihnen schwer, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Und Helfende wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Dürfen sie das Thema ansprechen? Und wenn ja, wie?

Um genau solche Fragen geht es im Erste-Hilfe-Kurs Ensa: wie man Anzeichen erkennen, Betroffene ansprechen und an Fachleute verweisen kann. In Rollenspielen üben Teilnehmende solche Gespräche. «Nichts tun ist immer falsch», sagt Kursleiterin Renata Merz. Die Zürcher Psychologin hat schon im Auftrag der Kantonalkirche Schaffhausen solche Kurse geleitet.

Das Konzept stammt aus Australien. «Ensa» bedeutet in einer der Ab-origines-Sprachen «Antwort». 2019 hat die Stiftung Pro Mente Sana die Kurse mit Unterstützung der Beisheim-Stiftung in der Schweiz lanciert. Seit Neuestem bietet sie auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) ihren Mitgliedern zu vorteilhaften Bedingungen an. 

Noch bevor die EKS eine Vereinbarung mit Pro Mente Sana traf, hatten Helena Durtschi und Alena Gaberell, Fachmitarbeiterinnen bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, erkannt, dass psychische Probleme auch die Kirche etwas angehen. «Krankheiten sind ein Urthema der Kirche», sagt Durtschi. Wenn spirituelle Bedürfnisse Raum bekämen, könne sich dies positiv auf die seelische Gesundheit auswirken. Sie überzeugten die Kirche, solche Kurse anzubieten. Seitdem ist die Nachfrage gross.

Es braucht Mut, jemanden auf seine Psyche anzusprechen. Aber es ist enorm wichtig. Bei der Arbeit mit Jugendlichen bin ich jetzt noch sensibler.
Noemi Porfido, Jugendarbeiterin Kirchgemeinde Thun

Noemi Porfido, Jugendarbeiterin in der Kirchgemeinde Thun, hat teilgenommen. Sie leidet selbst an einer Angststörung. «Es braucht Mut, jemanden auf seine Psyche anzusprechen», sagt sie. «Aber es ist enorm wichtig.» Sie selbst wäre froh gewesen, wenn sie früher Hilfe erhalten hätte. Bei der Arbeit mit Jugendlichen sei sie jetzt noch sensibler. Deren Nachahmungsdrang sei gross. «Es darf nicht cool sein, eine Depression zu haben.»

Pfarrer Jacques-Antoine von Allmen, Weiterbildungsbeauftragter in der Zürcher Landeskirche, erlitt ein Burn-out und weiss, wie sich psychisches Kranksein anfühlt. Der Kurs hat ihm zusätzlich geholfen, eine junge Frau in einer depressiven Episode zu unterstützen. Ende August bietet er mit Durtschi einen Online-Kurs für Sozialdiakone, Katechetinnen und Pfarrleute an. Das Ziel von Pro Mente Sana ist es, zehn Prozent der Schweizer auszubilden. «Wir möchten helfen, das Ziel zu erreichen.»