Recherche 27. Juni 2016, von Remo Wiegand

Das Geld ist willkommen, der Gast weniger

Tourismus

Vermehrt bereisen Asiaten die Schweiz, bringen Geld – und Unbehagen. Stärkung der eigenen Identität könne helfen, lautet ein Ratschlag von kirchlicher Seite.

Interlaken zieht seit Jahren Touristen in grosser Zahl an. Heuer werden gegen eine Million Gäste im 6000-Seelen-Dorf logieren. Der Ansturm sorgt indes für gemischte Gefühle. Der Verkehr nimmt zu, der Abfall auf den öffentlichen Plätzen häuft sich, einige Einkaufszonen sind kaum mehr zugänglich.

«Vor zwanzig Jahren spazierten wir noch durch den Höheweg oder picknickten auf der Höhematte. Heute meiden wir den Trubel», sagt David Kleist, der seit 28 Jahren in Interlaken wohnt und als Pastor der Pfingstgemeinde wirkt. Insbesondere die rasant wachsende Gruppe von Touristen aus den neuen Märkten hätten die Szenerie merklich verändert. «Manchmal sind die Touristenmassen bedrohlich», gesteht Kleist. Vor allem die arabischen Gäste mit den grossen Familien, mit verhüllten Frauen und rabiaten Männern am Autosteuer sorgen für Irritationen.

Labiles Gleichgewicht. Ähnlich wie Kleist empfinden viele in Interlaken oder in anderen touristischen Hotspots. Man hat sich mit den Gästen als notwendige Geldquelle höchstens arrangiert, warm wird man mit ihnen nicht.

Eine herzliche Willkommenskultur? Allenfalls in professionellem Rahmen, nach Feierabend erstarrt das Lächeln gegenüber Fremden zur schmallippigen Reserviertheit. Das labile Gleichgewicht hält nur, weil beide Seiten profitieren. Doch der Massentourismus birgt Konfliktpotenzial. Die touristischen Parallelgesellschaften sind eine Blase, die platzen kann.

Stefan Otz kennt die Befindlichkeiten. Er hat in seinen dreizehn Jahren als Tourismusdirektor – Ende Juni gibt er sein Amt ab – den Run der neuen Gästegruppen aktiv gefördert. Die Branche zollt Otz dafür Respekt; nur Interlaken und Luzern haben es so geschafft, den Einbruch der klassischen Touristengruppen aus Europa oder den USA zu kompensieren.

An der Heimatfront ist er indes neu herausgefordert: «Bisher bestand unsere Aufgabe darin, Gäste zu holen und zu halten. Nun müssen wir auch die Bevölkerung sensibilisieren und schulen», erklärt Otz. Interlaken Tourismus bietet deshalb regelmässig Workshops an, die das Einmaleins der fremden Kulturen vermitteln. Die Kurse werden gut besucht, auch von Polizistinnen oder Busfahrern.

Belohnte Bevölkerung. Darüber hinaus will Otz vermehrt «die Bevölkerung belohnen». So servierte Interlaken Tourismus dieser im vergangenen Jahr ein Outdoor-Diner – auf der Höhenmatte, wo die Einheimischen zumindest einen Abend lang die Auswärtigen zahlenmässig übertrumpften.

Doch reichen solche Massnahmen, um wachsenden Unmut zu besänftigen und das Dogma vom Tourismus als «Segen für alle» zu wahren? Auch in der Kirche macht man sich darüber Gedanken. Pfarrer Thomas Schweizer, Beauftragter für gastfreundliche Kirchen und Tourismusexperte der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn, stellt sich im Grundsatz auf die Seite der Branche: «Die Menschen, die im Tourismus tätig sind, stehen in einem Überlebenskampf. Sie müssen zunächst einmal genug einnehmen.»

Schweizer, der zwölf Jahre lang als Pfarrer in Davos amtete, erachtet es als alternativlos, den Massentourismus zu akzeptieren und neue Märkte zu erschliessen. Grundsatzkritik seitens der Kirchen oder das Hohe Lied auf den sanften Individualtourismus hält er für wenig realistisch: «Idealistische Lösungen sind meist nicht marktfähig.»

Offene Kirchen. Auch Thomas Schweizer will dafür die Entbehrungen der Einheimischen so gut es geht kompensieren. «Wir müssen die Identität der Dorfgemeinschaft stärken, damit sich die Menschen nicht fremd im eigenen Land fühlen.» Hier stehe auch die Kirche in der Pflicht.

In Steffisburg, wo Schweizer im Teilzeitpensum arbeitet, unterstützte die Kirchgemeinde deshalb kürzlich das kantonale Jodlerfest, indem sie Räume zur Verfügung stellte. Ein Ausdruck heimischer Kultur seien auch die Kirchen und die Spiritualität. Damit dies auch wahrgenommen werde, müssten Kirchenräume aber vermehrt offen sein, den christlichen Glauben vorstellen und übersetzen, appelliert Schweizer.

Identitätsstärkung als Wellenbrecher gegen die Überflutung durch Touristenströme? Klingt einleuchtend, aber auch ziemlich defensiv. Oder einfach: typisch schweizerisch. Just die hiesige Diskretion ist es denn auch, die touristische Parallelgesellschaften fördert. Wer sich angesichts auswärtiger Übermacht nur ins wohlige Eigene zurückzieht, beraubt sich der Chance, Fremden zu begegnen.

Erst Begegnungen machen aus Touristen Menschen, zum Wohle beider Seiten. Stefan Otz von Interlaken Tourismus ist sich dessen bewusst. Er wünscht sich deshalb – neben den Platzkonzerten im Sommer, neben der Eislaufbahn im Winter – mehr Begegnungszonen, wo sich Einheimische und Fremde treffen können. Gerade arabische Gäste hielten fest, dass ihnen ein stärkerer Austausch mit der Bevölkerung fehle.

Freikirche sagt «Salam aleikum»

Stefan Otz von Interlaken Tourismus würde es begrüssen, wenn auch die Kirchen verstärkt die Begegnung zwischen Touristen und Einheimischen fördern würden. Während sich die reformierte Landeskirche weitgehend zurückhält, suchen die Freikirchen durchaus Kontakt zu Touristen.

Zuhören, Reden. Sie tun dies auf ihre Art: Im Rahmen des Projekts «Salam aleikum» gehen freikirchliche Christen auf Gäste zu, vor allem auf arabische. «Wir heissen die Menschen zunächst einmal willkommen. Oft, aber nicht immer, erzählen wir dann etwas über unseren christlichen Glauben», erzählt Pfingstgemeinde-Pastor David Kleist.

Der missionarische Touch stösst nicht nur auf Gegenliebe. Pfarrer Thomas Schweizer hingegen sieht es positiv: «Ich finde das eine schöne Form von Gastfreundschaft: Begrüssen, zuhören und zeigen, wer wir sind.»