Recherche 04. Mai 2020, von Sandra Hohendahl-Tesch, Cornelia Krause

Das Virus verändert den Blick auf den Mitmenschen

Gesellschaft

Die Pandemie wird Spuren hinterlassen, selbst wenn die Bedrohung nicht mehr akut ist. Im Miteinander, in der Beziehung zu uns selbst und im Umgang mit existenziellen Fragen.

Kein Händeschütteln mehr, kein Küsschen, keine Umarmung zur Begrüssung. Gespräche mit Nachbarn, Freunden und selbst Verwandten nur mit Abstand. Und der wöchentliche Grosseinkauf mutet an wie eine Exkursion in feindliches Gebiet. Der Feind wiederum ist unsichtbar und könnte überall lauern: in der jungen Frau, die  zielstrebig mit dem Einkaufswagen vorbeizieht, oder im schnaufenden Jogger, der den Hof passiert, selbst im Kleinkind der Nachbarsfamilie.

Das Coronavirus hat unser Empfinden gegenüber anderen innerhalb weniger Wochen verändert. Die Pandemie bündle und verstärke Tendenzen, die in der Gesellschaft bereits existieren, erklärt Hartmut Rosa, Soziologieprofessor von der Universität Jena. Dazu gehört für ihn die Begegnung des Fremden mit latenter Abwehr. «Genau das wird jetzt zum körperlich stark erfahrbaren Grundmoment. Es wird der Sinn geschärft: Der andere ist eine mögliche Bedrohung.» Rosa hält das für problematisch, weil für ihn Leben gerade dann gelingt, wenn man bereit ist, sich auf etwas Neues, Fremdes, einzulassen – oftmals auch mit unklarem Ausgang.

Die Erfahrungen der Krise dürften Spuren hinterlassen, auch wenn die Gefahr einmal weitgehend gebannt sein sollte. Die Soziologin Teresa Koloma Beck forscht über Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften und stellt mit Blick auf Gefahrenvermeidung Ähnlichkeiten fest. «Verhaltensänderungen zum eigenen Schutz im öffentlichen Raum bleiben oftmals länger bestehen als eigentlich nötig.» Unbewusst verselbstständigten sich im Körper die neuen Gewohnheiten. «Selbst wenn ein Impfstoff verfügbar ist, verschwindet diese Wahrnehmung des anderen als Gefahrenträger nicht von einem Tag auf den anderen», sagt Koloma Beck, Professorin an der Universität der Bundeswehr in München und tätig am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Der Fremde als Helfer

Der Fremde als Gefahr oder als jemand, der einem gleichgültig ist und deshalb auch keine besondere Rücksicht verdient: Das sind negative Ausprägungen der gegenwärtigen Pandemie. Demgegenüber steht eine vielfach beschriebene Welle der Solidarität, die Fremde zum Helfer macht. Leute aus dem Quartier bringen alten oder kranken Menschen Einkäufe nach Hause, hüten Haustiere oder Kinder.

Die Hilfsbereitschaft überrasche uns, da Solidarität gegenüber Fremden in der individualisierten Wohlstandsgesellschaft unter normalen Umständen kaum mehr nötig sei, sagt Rosa. «Für jedes Problem gibt es eine institutionelle Zuständigkeit, den Arzt, den Klempner, den Anwalt.» Jetzt, da viele Dienstleistungen nicht mehr erhältlich seien, rücke solidarisches Handeln wieder ins Blickfeld.

Für den Zürcher Ethiker und Theologen Christoph Stückelberger ist es beeindruckend, wie die Solidarität greift. «Es stellt sich aber die Frage, ob diese genügend tief in uns verankert ist oder  nur eine pragmatische Notwendigkeit darstellt.» In diesem Fall würde sie nicht lange anhalten.

«Wir» oder «die»

Entscheidend ist nach Einschätzung von Gesellschaftswissenschaftlern insbesondere, wie sich auf längere Sicht die Solidarität zwischen den Generationen entwickelt. Dass die Massnahmen des Social Distancing von der gesamten Bevölkerung eingehalten werden, ist für ältere Menschen, für die eine Erkrankung oft bedrohlich werden kann, entscheidend. Auf ihren gewohnten Alltag verzichten müssen deshalb auch die Jungen, für die das Virus wenig Gefahr darstellt.

Soziologe Rosa sieht in dieser ungleichen Kosten-Nutzen-Verteilung die Gefahr von Spaltungen. Für ihn ist es entscheidend, die Verzichte der Jungen nicht zu bagatellisieren, sondern anzuerkennen. Und entsprechend zu kommunizieren. «Solidarität zerbricht immer, wenn ein ‹wir› und ein ‹die› konstruiert wird; «‹wir› dürfen etwas nicht, um ‹die› zu retten.» Damit die Solidarität zwischen den Generationen in der Krise und darüber hinaus Bestand hat, sei es entscheidend, einen «Wir-Sinn» zu schaffen. «Wir wollen nicht, dass unsere Alten sterben, wir wollen eine Gesellschaft sein, die sich um alle kümmert.»

Die Allbetroffenheit wirft Fragen auf, denen man sich sonst nur ungern stellt
Teresa Koloma Beck, Soziologin

Doch die Pandemie verändert nicht nur die Sicht auf die anderen. Hartmut Rosa sieht sie auch als möglichen Ausgangspunkt für einen Pfadwechsel in der Auseinandersetzung mit uns selbst. Denn: Ein Grossteil der Bevölkerung verzeichnet gähnende Leere im Terminkalender. Reisen, Sitzungen, Kulturanlässe oder Familienfeste sind abgesagt, die Hamsterräder angehalten.

Diese «unfreiwillige Entschleunigung» werde vielfach als unangenehm empfunden, zumal sie bei einem Teil der Bevölkerung mit wirtschaftlicher Existenznot einhergeht, führt Soziologe Rosa aus. Die freie Zeit könne aber nützlich sein, um herauszufinden, was einem tatsächlich wichtig ist, und biete Raum, um mit diesen Dingen in Verbindung, in Resonanz, zu treten. Obwohl die Wirtschaft bald wieder hochfahre und mit ihr das normale Tempo zurückkehre, hätten die in der Zeit gewonnenen individuellen Erkenntnisse Bestand.

Der Wert der Natur

In der Frage, ob die Pandemie tatsächlich auch im Hinblick auf den Kampf gegen die Klimaveränderung positive Langzeitfolgen haben wird, äussern sich Experten vorsichtig optimistisch. Der Ethiker Christoph Stückelberger plädiert dafür, die Erholung der Natur als Ermutigung zu betrachten. Die Corona-Krise zeige, dass sich auch mit eingeschränkten Flugmöglichkeiten leben und grössere Restriktionen im Flug- oder Autoverkehr verkraften liessen.

Auch Rosa sieht eine Chance für Veränderung. Die vergleichsweise erfolglose Klimapolitik der letzten Jahrzehnte habe bei den Menschen zu einer «gewaltigen Ohnmachtserfahrung» geführt. Grüne Parteien, Klimagipfel, Verpflichtungserklärungen, nichts habe zu einem entschiedenen Kurswechsel geführt. «Dann kommt ein Virus, und wir machen die Erfahrung, dass wir tatsächlich politisch handeln und die Räder zum Stillstand bringen können, wenn wir das wollen.»

Tod als kollektives Thema

Die politische Schlagkraft im Kampf gegen die Pandemie steht in Kontrast zum Gefühl der Unkontrollierbarkeit, die das Virus bislang mit sich bringt. Kein Impfstoff, kein Medikament und unterschiedlichste Krankheitsverläufe. Die Themen Tod und Sterben beschäftigen, anders als in normalen Zeiten, nicht nur einzelne, von einem Todesfall betroffene Menschen, sondern die gesamte Gesellschaft. «Diese Allbetroffenheit wirft Fragen auf, denen man sich sonst nur ungern stellt», sagt Teresa Koloma Beck. Mit diesen existenziellen Themen befassten sich vor allem Kunst und Religion. Deshalb komme diesen gesellschaftlichen Bereichen in der derzeitigen Situation eine besondere Bedeutung zu.

Auch Rosa geht davon aus, dass das Bedürfnis nach einem Gefühl für eine Verbindung mit «dem Umgreifenden» in diesen Zeiten zunimmt. Die Verletzbarkeit und die Unverfügbarkeit des Lebens sind für den Soziologen ein wiederkehrendes Thema der Bibel. «Ich glaube, das Coronavirus ist wie ein Anruf an die Gesellschaft, und auch die Kirche muss ihre Antwort darauf finden.» So stellt sich für ihn auch die Frage, ob es so etwas wie Geschick, Schicksal gebe. «Natürlich will ich nicht sagen, dieses Virus hat irgendeinen Sinn. Aber es bringt die Gesellschaft in Reflexionsmodus.» Was auch dazu zwinge, Antworten auf «unser Verhältnis zur letzten Wirklichkeit zu finden».