Das öffentliche Leben steht weitgehend still, wir können nicht reisen, vielen Hobbies nicht nachgehen wie bisher, unser Sozialleben nicht so pflegen, wie wir es gewohnt sind. Was passiert, wenn diese Einschränkungen wieder wegfallen?
Wir müssen derzeit auf vieles verzichten und vermutlich werden wir einen Nachholbedarf haben und vielfach Normalität wieder herstellen wollen. Insofern besteht schon die Gefahr, dass wir dann noch schneller unterwegs sein werden und unsere To-Do-Listen abarbeiten wollen. Aber in diesen Wochen ist bei den meisten Menschen viel freie Zeit entstanden, alte Routinen funktionieren nicht mehr. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir das nicht auch als Chance für einen Pfadwechsel nehmen. Wenn wir erst einmal wieder in den Hamsterrädern stecken, kommen wir so schnell nicht mehr raus. Der Druck der Wirtschaft ist gross, auch hängt für viele die Existenz davon ab, schnell wieder durchzustarten.
Können wir diese Entscheidung überhaupt individuell treffen?
Die Spielräume sind vielleicht nicht gross. Und natürlich ist bei vielen der Wunsch auch da, wieder einfach ins alte Leben zurückzukehren, insbesondere bei Menschen, die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz, ihre Gesundheit oder um Angehörige haben. Man darf nicht unterschätzen, wie groß die Not und Sorge für viele in dieser Zeit auch geworden ist – für nicht wenige ist der Stress sogar größer geworden. Dennoch machen wir gerade neue Erfahrungen mit uns und mit einer anderen Lebensform, wir sind plötzlich anders in Zeit und Raum gestellt. Faszinierend ist etwa das, was ich «Reichweitenverkürzung» nenne. Wochen auf einer einsamen Alphütte oder auf dem Jakobsweg werden von vielen Menschen ja regelrecht gesucht. Nun erleben wir eine ungewollte Reichweitenverkürzung. Wir erfahren eine andere Weise, mit uns selbst und anderen umzugehen. Der Spielraum, ein paar von diesen Erfahrungen wirksam werden zu lassen, besteht schon.
Zum Beispiel?
Wir sind beispielsweise nicht gezwungen, ständig zu reisen. Oder wir stellen fest, dass uns andere Dinge bewegen, als ursprünglich gedacht, dass wir andere Resonanzachsen haben als bisher angenommen. Oft sagen wir: Wenn ich mal Zeit habe, dann höre ich eine Wagner Oper, ich lese ein bestimmtes Buch, ich lerne Klavierspielen. Aber nun, da man die Zeit hat, zeigt sich, dass das nicht so einfach geht. Dass es gar nicht Wagner oder das Klavier sind, mit dem man sich beschäftigen will, sondern vielleicht lieber AC/DC. Wir lernen unsere Resonanzachsen neu kennen.