Herr Rosa, in Ihrem aktuellen Buch untersuchen Sie die Rolle der Religion für eine gelingende Demokratie. Wie kam es dazu?
Hartmut Rosa: Der Würzburger Bischof hatte mich dazu eingeladen, beim Diözesanempfang 2022 zu sprechen. Das Thema dort war die Jahreslosung des Bistums: «Gib mir ein hörendes Herz». In der Bibelstelle bittet der junge König Salomon Gott um ein hörendes Herz – damit er besser regieren kann (1. Könige 3). Das Überraschende daran: Er wünscht sich nicht Macht oder eine starke Armee oder kluge Berater sondern ein Herz, das hinhört. Das machte mich hellhörig, denn ich beschäftige mich ja mit Resonanz, dieser Beziehung aus Hören und Antworten und fand es spannend, auf Resonanzen in der Politik zu schauen.
Das Fazit Ihres Buches ist zugleich der Titel: «Demokratie braucht Religion». Warum ist das so?
Erst einmal: Wir haben eine Demokratiekrise. Ich erinnere an das vergiftete Verhältnis zwischen Demokraten und Republikanern in den USA oder an die Spaltung in England rund um den Brexit und die Anfeindungen zwischen Anhängern und Gegnern der Covid-Impfung in Deutschland und der Schweiz. Die Demokratie funktioniert also derzeit nicht so richtig. Und ich denke das liegt daran, dass die hörenden Herzen fehlen.
Also an mangelnder Toleranz gegenüber Andersdenkenden?
Nein. Tolerieren geht ja auch, wenn man den anderen Glauben, die andere Hautfarbe oder die andere Art zu lieben total daneben findet! «Ich tolerier dich, mach du dein Ding» ist etwas ganz anderes als ein hörendes Herz zu haben: Das hiesse, bereit zu sein, das Gegenüber in einem existenziellen Sinn wirklich zu hören!
Braucht es für eine funktionierende Demokratie nicht viel mehr gemeinsame Wertvorstellungen oder eine gemeinsame Kultur?
Eben nicht. Ich glaube, das hörende Herz ist die viel wichtigere gemeinsame Voraussetzung.