Warum braucht es die Stimme der Ethik in der aktuellen Corona-Krise?
Christoph Stückelberger: In der Pandemie stellt sich unmittelbar die Frage, woran wir uns als Gesellschaft halten und orientieren sollen. Die erste Antwort kommt von der Medizin, von den Virologen. Doch wie sollen wir damit umgehen? Ob man es nun Ethik nennt oder nicht, Wertefragen stellen sich immer, wie zum Beispiel: Was ist uns Gesundheit wert? Wer soll geschützt werden? Wie sind knappe Mittel zu verteilen? In der gegenwärtigen Krise geht es insbesondere um eine Prioritätenabwägung: Welche Werte sind in welcher Situation am wichtigsten? In der ersten Zeit der Pandemie stand die Gesundheit an oberster Stelle und alles andere musste dahinter zurücktreten. Nach zwei drei Wochen setzt nun eine zweite Welle ein. Die Wirtschaft im Sinne von Finanzfähigkeit oder Arbeitsplätzen meldet sich jetzt zurück. Mittelfristig ist die Wirtschaftlichkeit ebenfalls eine Frage um Leben um Tod – Nichts zu essen zu haben geht ja auch ans Lebendige. Weltweit kann die neue Schuldenkrise Millionen von Menschen das Leben kosten.
Es gibt Ökonomen, aber auch Virologen, die eine kontrollierte Infizierung einem Shutdown vorziehen würden. Was sagen Sie als Ethiker: Gilt es, jedes Leben um jeden Preis zu retten, auch wenn daraus ein immenser wirtschaftlicher Schaden für die ganze Gesellschaft resultiert?
Es besteht kein Zweifel daran, dass wir versuchen sollten, umfangreich Leben zu retten und zu erhalten. Gleichzeitig kann der Schutz des Lebens nicht gegen die Ökonomie aufgewogen werden. Denn Ökonomie soll Leben ermöglichen. Wenn das Finanzsystem zusammenkracht, ist die Opferzahl noch viel grösser. Gesundheit und Ökonomie spielen beide eine grosse Rolle, man muss mit Augenmass die entsprechende Güterabwägung vornehmen. Ein einseitiges Setzen auf Massnahmen führt dazu, dass zusätzlich Opfer in Kauf genommen oder produziert werden.
Der Entscheidung über Leben und Tod scheint in dieser Krise plötzlich allgegenwärtig. Ärzte müssen darüber entscheiden, wer beatmet werden soll und wen man sterben lässt.
Ressourcen sollen gerecht verteilt werden, um das Leben möglichst vieler Menschen zu erhalten. So halten es die ethischen Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Wissenschaften SAMW fest. Ganz wichtig gerade in der Pandemie ist der Zusatz, dass Geld, Status oder Berühmtheit einer Person bei der Ressourcenverteilung keine Rolle spielen dürfen. In der Praxis fällen wir ständig Entscheide über Leben und Tod, nicht nur in der Extremsituation der Pandemie. Wie viel Entwicklungshilfe wir leisten und letztlich wie viel wir für eine Mango aus Ghana bezahlen, beeinflusst konkret die Existenzfähigkeit anderer. Wir stehen also nicht plötzlich vor einer neuen Fragestellung, doch sie ist sehr viel bewusster und offensichtlicher, weil sie uns in der Vorstellung, wir müssen ins Spital und können nicht damit rechnen, an die Maschine zu kommen, direkt betrifft. Die Ressourcenverteilung ist die wichtigste Gerechtigkeitsfrage.
Wie meinen Sie das?
Ich nenne ein Beispiel. Als mein Vater, der als reformierter Pfarrer ein erfülltes Leben hatte, im Altersheim war, litt er sehr an der Gerechtigkeitsfrage. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil sein Pflegeheim total rund zehntausend Franken pro Monat kostete und mit diesem Geld hundert erblindete Kinder von ihrer Augenkrankheit hätten geheilt werden können, jeden Monat. Doch auch das Leben im Heim eines sehr alten und oder kranken Menschen ist eben wertvoll und sinnvoll.