«In erster Linie bin ich Schauspieler», sagt Andrea Zogg und lehnt sich zurück im Stuhl seines Büros im ehemaligen Pfarrhaus in Valzeina. Das Prättigauer Bergdorf ist seit einigen Jahren sein Hauptwohn- und Arbeitsort. «Es ist wunderbar hier, kein Strassenlärm, keine Strassenlampen», so Zogg, «hier bin ich über den Dingen.»
Der gebürtige Taminser kennt das Prättigau gut. In der Theatergruppe der Evangelischen Mittelschule in Schiers, wo er das Lehrerseminar absolvierte, spielte er seine erste Hauptrolle, Romulus den Grossen. Als Mitglied des Seminarchors nahm er an einer Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium «Messias» samt Orchester teil. Die Wucht dieses Werkes habe er nie mehr vergessen. «Diese Musik fühle ich seither in mir.»
Den eigenen Weg finden
Viele Jahre später, während eines Besuches bei seiner betagten Mutter, liess eine Hörbuchpassage dieses Gefühl wieder aufleben. Die Mutter hörte sich Stefan Zweigs Novelle über das Leben von Georg Friedrich Händel an. Darin beschreibt der Autor den Komponisten Händel als einen mit sich ringenden Künstler, der unter dem Druck, den «Messias» zu vollenden, beinahe zerbricht. «Auch ich steckte damals in einer Schaffenskrise», erzählt Zogg, «es fiel mir zunehmend schwerer, meine Texte zu lernen.» In der Erzählung kann Händel den «Messias», das berühmte Oratorium, das Jesu Auferstehungsgeschichte vertont, vollenden und wird gesund. So wurde das Werk «Messias» auch zu Händels eigener Auferstehung.
Der Besuch bei der Mutter habe zwei Dinge in ihm ausgelöst, so Zogg: «Eine wunderbare Erinnerung an Händels Musik. Und den Wunsch, diese mit Stefan Zweigs einfühlsamer Prosa zu verbinden.» So kreierte Zogg aus Zweigs Vorlage etwas Eigenes: Begleitet vom Musiker Marco Schädler, singt er Passagen aus dem Oratorium, liest Textauszüge aus Zweigs Novelle und verbindet beides intuitiv als Schauspieler. Das Stück ist ein Erfolg. Bereits die vierte Saison spielen es Andrea Zogg und Marco Schädler auf den grossen und kleinen Theaterbühnen der Schweiz.
Seit bald 40 Jahren geht Andrea Zogg seinen eigenen Weg als freiberuflicher Schauspieler. «Anstellungen in Theaterensembles sind zwar lukrativ, aber schränken mich ein», sagt er. Der Schauspieler, der Robert De Niro und Gérard Depardieu als Vorbilder nennt, ist heute auch ein gefragter Regisseur. Er inszeniert Georges Bizets «Carmen» als Hippie-Oper an der Gartenoper in Langenthal. Das Programm «WOM White Old Men – Eine Totenmesse», eine humoristische Anspielung auf das aussterbende Patriarchat mit Musik von Henry Purcell bis Nina Hagen, feiert dieses Jahr Premiere in der Postremise in Chur.
Eine Stimme haben
Andrea Zogg blickt aus dem Fenster zum Rätikon mit dem Schesaplana auf der anderen Talseite. Gegenüber dem Pfarrhaus steht die reformierte Kirche. Weiter als bis hierher fährt das Postauto nicht. Wer oberhalb des Dorfes wohnt, im Flüeli, dem ehemaligen christlichen Erholungsheim, das heute das Ausreisezentrum für abgewiesene Asylsuchende ist, muss noch 30 Minuten Fussmarsch zurücklegen.
Einige der Flüeli-Bewohner kennt Zogg von früher: aus seiner aktiven Zeit beim interkulturellen Theater Global Players Chur, das seine Frau Eva Roselt vor acht Jahren gründete. «Ab und zu sehen wir uns, dann trinken wir Kaffee oder helfen dem Nachbarn beim Heuen.» Einige, so Zogg, hätten durch das Theaterspielen erst entdeckt, dass sie überhaupt eine Stimme haben.
Auch Andrea Zogg hat durch die Arbeit an seinem Stück über den Komponisten Händel wieder zu seiner Stimme gefunden. Das sei es, was Kunst im besten Fall biete: «Immer wieder die eigene Auferstehung ermöglichen.»