Der Geist der 68er weht weiter

Tourismus

Salecina galt früher als "Kommunistennest". Heute ist das Ferien- und Bildungszentrum ein etabliertes Gästeangebot - mit unverändertem Grundgedanken.

Rot wie die Jacke, die Anna Ratti trägt, war die politische Gesinnung der Gründer und Gäste des Ferien- und Bildungszentrums Salecina im Maloja der Siebzigerja

Von diesem feindlich gesinnten Zeitgeist liess sich Anna Ratti jedoch nicht einschüchtern. Fünfzehn Jahre amtete sie als Hüttenwartin und ist noch immer mit Salecina verbunden. «Unsere Botschaft ist gleich geblieben», sagt sie, während sie die Treppe zur Bibliothek hochsteigt: Ferien mit Bildung verbinden in einer selbst verwalteten gleichberechtigten Gemeinschaft. Nicht ohne Stolz zeigt sie auf die vollen Bücherregale. Von Karl Marx, Herbert Marcuse bis zu Max Frisch, ist hier vor allem auch Literatur über die Umgebung zu finden. Nebenan ist der grosse Saal, mit Gymnastikmatten, Beamer und Musikanlage. Früher war dies das «Matratzenlager». «Auf diese Errungenschaft waren wir ziemlich stolz», betont Anna Ratti. Frauen, Männer – alle schliefen gemeinsam in einem Raum. Konsequenterweise setzte man dieses Prinzip auch beim Duschen um, «save water, shower with a friend», lautete das Motto.

Computer hält EinzugDraussen frischt der Malojawind auf. Am Horizont verhüllen Nebelschwaden die Sicht auf den Piz Salecina, den Namensgeber des Gästehauses an seinem Fusse. Anna Ratti klopft an die Bürotür. Gian Carlo Geronimi aus Chiavenna begrüsst seine Vorgängerin herzlich. «Früher stand hier nur ein Schreibtisch und ein Sofa. Die Nische dahinter war mein Schlafraum.» Heute stehen in der Nische ein Fotokopierer, Aktenschränke und Gestelle voller Ordner. «Die Verwaltung ist gewaltig geworden», staunt Ratti. Das riesige Plakat an der Wand, welches mit farbigen Vierecken die Reservationen sichtbar machte, ist auch verschwunden. Heute erledigt das der Computer. Geblieben ist der Ämtliplan. Wer in Salecina Ferien macht, kocht, bettet, putzt für die Gemeinschaft und trägt sich täglich aufs Neue für eine Aufgabe ein. «Zum Glück dauern die Diskussionen nicht mehr die ganze Nacht wie früher», sagt Gian Carlo Geronimi, der mit einem Viererteam für den Betrieb verantwortlich ist. Er kennt die Schauergeschichten über Salecina aus seiner Jugend.

Nationalrat greift einTatsächlich nahm die Paranoia vor dem kommunistischen Feind groteske Züge an. Der deutsche Staatsschutz liess Spitzel unter den Gästen einschleusen, weil man Mitglieder der Terroristengruppe RAF unter ihnen vermutete. «Das war lächerlich. Niemand lebte so offen wie wir», sagt Ratti. Jahrelang wurden die Telefone abgehört. «Wir wussten das. Der Dorfpolizist, der bei uns regelmässig zum Kaffee kam, warnte uns.» 1983 verunglimpfte ein Territorialkommando des Militärs Rattis Namen und stellte eine mit «Rote Ratte» beschriftete Zielscheibe als Schiessübung auf. Das ging selbst dem Bündner Nationalrat Martin Bundi zu weit. Er erwirkte, dass sich das Eidgenössische Militärdepartement dafür öffentlich entschuldigen musste. Heute spielt Salecina keine geringe Rolle im Tourismusangebot des Oberengadins. Dem Engagement der «Salecinesen», die Umbau und Renovationen stets in Eigenregie ausführten, zollen auch die Einheimischen Respekt. Die Bettenzahl hat sich auf fast sechzig verdoppelt und statt der «Matratzenlager» gibt es heute auch Zweier- und Vierer-Schlafräume. Seit 46 Jahren ist Salecina ein Erfolgsmodell. Getragen vom «Geist all jener, die über Jahre mit Herzblut hier Hand anlegten», bringt es Gian Carlo Geronimi auf den Punkt.

Anna Ratti, 71

Die gelernte Buchhändlerin und Kulturvermittlerin gründete mit Theo und Amalie Pinkus (die Salecina 1971 erwarben) das

Bildungszentrum Salecina in einem ehemaligen Bauerngut aus dem 17. Jahrhundert in Maloja. Mit 47 kandidierte sie als erste Frau für die Bündner Regierung. Die SP-Politikerin war zeitweise Kirchgemeindepräsidentin in Casaccia. Sie schreibt fürs romanische Radio zweimal im Jahr «Pled sin via», kurze biblische Interpretationen in romanischer Sprache. Sie ist in Maloja aufgewachsen und lebt heute in Casaccia im Bergell. www.salecina.ch