Recherche 02. Dezember 2019, von Eva Mell

Der Kirche geht das Geld aus

Kirchenpolitik

In der reformierten Aargauer Kirchgemeinden reicht das Geld nicht mehr für einen Gottesdienst jeden Sonntag.

Der Kirchenrat überdenkt die Sonntagsgottesdienste im Aargau. Was ist los?
David Lentzsch: Der Gemeindegottesdienst ist in der Krise, die Besucherzahlen gehen zurück. Das hat auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Deshalb planen wir, die Vorschriften zu lockern. 

Die Rahmenbedingungen in der Kirchenordnung sollen geändert werden. Wie lauten sie bisher?
Vorgeschrieben ist: Der Gemeindegottesdienst findet jeden Sonntag und jeden Feiertag in jeder Kirchgemeinde statt und wird in der Regel von einer wählbaren Pfarrperson geleitet. Leider haben wir kein Geld mehr für die nötigen Pfarrstellenprozente, um das in jeder Kirchgemeinde zu erfüllen.

Bei einer Tagung zum Thema diesen Herbst sagten Sie, dass ein Gottesdienst durchschnittlich 2000 Franken kostet.
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wie viel muss man heizen? Welche Ausbildung hat der Organist? Im Mittel liegt der Betrag bei rund 2000 Franken.

Neben den Sparzwängen beobachten Sie veränderte Erwartungen der Gottesdienstbesucher.
Ein einziges Produkt für alle funktioniert in unserer individualisierten Gesellschaft nicht mehr. Wir begannen deshalb schon vor Jahren, unterschiedliche Zielgruppen zu bedienen, zum Beispiel mit Taizé- oder Jugendgottesdiensten. Auch Kasualgottesdienste wie Abdankungen, Trauungen und Taufen werden immer individualisierter. Das müssen wir ausbauen.

Individualisierte Gottesdienste sind aufwendig. Widerspricht das nicht dem Spargedanken?
Ich denke, die Zugehörigkeit zu einer Kirche drückt sich heute darin aus, ob jemand die Kasualdienste in Anspruch nimmt: Lasse ich meine Kinder taufen? Heirate ich in der Kirche? Lasse ich meine Angehörigen kirchlich beerdigen? Wenn wir die Entfremdung von der Kirche aufhalten oder sogar umkehren wollen, müssen wir darin investieren. Dieser Zusatzaufwand muss kompensiert werden, indem anderswo etwas wegfällt.

Welche verbindlichen Regeln soll es überhaupt noch geben?
Der Gottesdienst soll weiterhin grundsätzlich an jedem Sonntag in jeder Gemeinde stattfinden. Aber die Kirchgemeinden sollen zusammenarbeiten, den Gottesdienst auch an einem Werktag feiern oder mal ganz ausfallen lassen können. Die Kirchgemeinde bleibt vor Ort und definiert, welche Angebote gemeinsam mit anderen organisiert und durchgeführt werden können.

Wertet man den Sonntag als kirchlichen Feiertag dadurch nicht ab?
Das ist so. Aber es hat sich sowieso schon extrem viel geändert. Als ich Anfang der Neunzigerjahre Pfarrer wurde, legte man alle anderen Veranstaltungen am Sonntag so, dass sie nach dem Gottesdienst begannen. Das ist nicht mehr so.

Mancherorts im Aargau geschieht das bereits.
Es sind vier Regionen, die sich bereits formiert haben, darunter etwa das Schenkenbergtal, in dem vier Kirchgemeinden ihre Zusammenarbeit vertieft und vertraglich geregelt haben.

Wann ist mit dem neuen Rahmenkonzept für die Gemeindegottesdienste zu rechnen?
Wir wollen damit im November 2020 an die Synode. Danach haben die Kirchenpflegen bis Dezember 2022 Zeit, die Änderungen umzusetzen.

David Lentzsch, 53

David Lentzsch studierte Theologie und Betriebswirtschaft. 1993 wurde er von der Zürcher Kirche ordiniert, anschliessend war er bis 2004 Pfarrer in Osterfingen SH und bis 2016 in Seengen AG. Er war Mitglied des Schaffhauser Kirchenrates und der Aargauer Synode. Lentzsch ist verheiratet und Vater von vier Kindern und Grossvater von zwei Enkelkindern