Der Brexit reisst in Nordirland alte Wunden auf

Konfession

Ein Waffenstillstand ist noch kein Frieden. Das zeigt sich in Nordirland, wo der Brexit die Gräben erneut vertieft, weil das Vertrauen zwischen Protestanten und Katholiken fehlt.

«Peace line» wird die Mauer in Belfast genannt, doch von Frieden ist in Nordirland wenig zu spüren. In den vergangenen Wochen ist der Konflikt zwischen dem probritisch-protestantischen und dem irisch-katholischen Lager neu entbrannt.

Anfang April zündeten Jugendliche beider konfessionellen Lager in Belfast mehrere Nächte hintereinander Autos an, warfen Molotowcocktails über die Friedensmauern, attackierten Polizisten. Zum ersten Mal seit bald zehn Jahren kam es in der britischen Provinz Nordirland wieder zu Gewaltausbrüchen.  

Protestantisch zu sein, heisst in Nordirland vor allem, nicht katholisch zu sein. Die Konfession dient primär der Abgrenzung.
Pfarrer John Dunlop, Presbyterianische Kirche in Irland

«Der Brexit führt zu neuen Spannungen und Problemen.» Das sagt John Dunlop im Gespräch mit «reformiert.». Er ist Pfarrer in der Presbyterianische Kirche in Irland. Die nordirischen Beziehungen hätten sich seit dem Friedensvertrag aus dem Jahr 1998, der als Karfreitagsabkommen bezeichnet wird, kontinuierlich verbessert: sowohl in der Provinz selbst als auch zur Republik Irland und zu Grossbritannien sowie zur Europäischen Union. «Die Folgen des Brexit stören diese Entwicklung jetzt massiv.»

Prozession als Provokation

Dunlop (82) unterstützt seit vielen Jahren den Friedensprozess und den Dialog zwischen protestantischen und katholischen Kirchgemeinden. Die Wunden, welche die Vergangenheit geschlagen habe, seien gross, betont er. Und die aktuellen Unruhen machten deutlich, dass ein Friedensabkommen noch lange nicht Versöhnung bedeute.

«Weiterhin stehen sich irisch-katholischer Nationalismus und protestantischer Unionismus unvereinbar gegenüber», erklärt Dunlop. Protestantisch zu sein, bedeute bis heute vor allem, nicht katholisch zu sein. «Die Konfession dient primär als Mittel zur Abgrenzung zum jeweils anderen», sagt der Theologe.

Die Leute fühlen sich abgehängt und haben Angst um ihre Zukunft, besonders die Jungen.
Jane Morrice, ehemalige Politikerin und Journalistin

Als Auslöser der Unruhen gilt ein Trauerzug in Belfast für ein führendes Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Über tausend republikanische Katholiken nahmen teil, ohne die Corona-Regeln zu befolgen. Die Empörung der protestantischen Unionisten war gross.Natürlich sei die Prozession eine Provokation gewesen, sagt Jane Morrice. Die ehemalige Politikerin und Journalistin ortet die wahren Gründe für die Eruption der Gewalt jedoch anderswo. In Nordirland waren 56 Prozent der Bevölkerung gegen den Brexit. Nun sei er Realität. «Die Leute fühlen sich abgehängt und haben Angst um ihre Zukunft, besonders die Jungen.» 

«Die Menschen sind einfach nur erschöpft»

Als britische Provinz gehört Nordirland nicht mehr zur Europäischen Union. Das scheine das tief verwurzelte Grundgefühl der Bevölkerung, zwischen den Fronten zu sein, «und alleingelassen und angefeindet zu werden, noch zu verstärken», sagt der bernische Pfarrer und Nordirland-Kenner Michael Graf. «Die Unruhen brachten den Konflikt, der wegen Brexit und der Pandemie ja beinahe vergessen gegangen war, wieder ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zurück.» Die nach dem Austritt aus der EU etablierte Zollgrenze habe das Grundvertrauen Nordirlands zu Grossbritannien «im Kern erschüttert», sagt Graf. Die Leute seien erschöpft, nicht nur vom inneren Konflikt, auch vom jahrzehntelangen Kampf um Gerechtigkeit und Wertschätzung. Dennoch vertraut Michael Graf «auf die Resilienz, die positive Hartnäckigkeit, den Humor und die Lebensfreude der Nordiren».
Der Nordirland-Kenner Michael Graf im Interview:  reformiert.info/nordirland

Morrice, die einst die Europäische Kommission in Belfast geleitet hat, analysiert: «Die Menschen in Nordirland empfinden die Brexit-Politik der Regierung in London als Affront.» Die Katholiken forderten immer lauter, sich vom britischen Königreich zu lösen und sich Irland anzuschliessen. «Die Protestanten sind dadurch alarmiert und bangen um ihre britische Identität.»

Die Kirchen in der Pflicht

Dabei spielten die Kirchen keine besonders gute Rolle, findet Morrice. «Sie rufen zwar zur friedlichen Einigung auf, doch zu den Ursachen des Konflikts schweigen sie seit Jahren.» Die Kirchen seien Teil des Problems und der Lösung, sagt der protestantische Pfarrer John Dunlop.

«In einzelnen Gemeinden wird viel Friedensarbeit geleistet, doch eine landesweite ökumenische Zusammenarbeit ist inexistent.» Auch Dunlop ist besorgt, aber nicht ohne Hoffnung. Das Aufflammen des Konflikts bedeute nicht das Ende des Friedens. «Es braucht den Willen zur gemeinsamen Lösung: ohne Gewalt, mit Geduld und Grosszügigkeit.» Die Kirche könne viel dazu beitragen.