«Viele Kollegen scheuen sich bis heute, sich mit einem katholischen Priester fotografieren zu lassen.» Das sagt der protestantische Pfarrer Steve Stockman. Er sitzt in seinem lichtdurchfluteten Büro. Unter ihm ist der Kirchenraum seiner presbyterianischen Gemeinde. In Nordirland herrsche zwischen den Kirchen immer noch ein «kalter Krieg», die konfessionellen Spannungen seien deutlich spürbar, sagt der 56-Jährige, der seit 2009 die Fitzroy-Kirche in Belfast leitet.
Von Spannungen ist im Mittelklassequartier in der nordirischen Hauptstadt allerdings nichts zu spüren. In den Kaffees herrscht reger Betrieb. Studentinnen und Studenten der nahen Universität frühstücken ausgiebig mit Cappuccino und pochierten Eiern auf Röstbrot.
Die Kirchen in der Pflicht
Knapp drei Kilometer entfernt sieht Belfast anders aus. Mauern und hohe Zäune, die «Peace Lines», trennen in den Arbeitervierteln die Konfessionen. Die Stimmung ist bedrückt, die Strassen sind leer. Hier sind die Spannungen im seit 1921 zu Grossbritannien gehörenden Nordirland zu spüren, obwohl 1998 der Konflikt nach dem Karfreitagsabkommen als beendet erklärt wurde.
Pfarrer Stockman weiss, Friedens- und Versöhnungsarbeit geschieht nicht von heute auf morgen. Sie braucht Generationen in einem Land mit einer 30-jährigen Bürgerkriegsgeschichte.
1968 bis 1998 prägten Unruhen und Terror Nordirland. Der Konflikt dreht sich bis heute um die Frage, ob Nordirland zu England oder Irland gehört. Während sich die unionistische Seite britisch fühlt, befürworten die Nationalisten eine Vereinigung mit Irland. Unionisten sind fast ausschliesslich Protestanten, die Nationalisten Katholiken.
Stockman kritisiert die Rolle der Kirchen während der Unruhen, der «Troubles». Zu sehr seien sie mit sich selbst beschäftigt gewesen und hätten auf Abgrenzung von der anderen Konfession gesetzt, statt Frieden zu stiften. «Es gab jedoch durchaus Menschen in den Kirchen, die religiöse Brücken schlugen.»
Einer von ihnen war Stockmans Vorgänger Ken Newell. Der Pfarrer trat in der Öffentlichkeit mit dem katholischen Pater Gerry Reynolds für Ökumene und Freundschaft ein. Im Verborgenen trugen sie dazu bei, dass sich verfeindete Paramilitärs an einen Tisch setzten.
Auch Pfarrer Stockman pflegt eine enge Freundschaft zu einem Katholiken. Mit Priester Martin Magill hält er Vorträge an Schulen und Universitäten, feiert gemeinsam Gottesdienst. Zuletzt organisierten sie zum sechsten Mal das «Four Corner Festival» in Belfast, einen Kulturanlass, der Menschen mit Konzerten, Lesungen, Theater, Workshops und Gottesdiensten in alle Ecken der Stadt bringt. «Wir wollen Grenzen überwinden.» Die Idee für das Festival kam Stockman, als er Magill im Westen von Belfast besuchte und merkte, diesen Stadtteil gar nicht zu kennen.
Auch Steine sind politisch
Während Belfast zwei Gesichter hat, das reiche Stadtzentrum und die Arbeiterviertel mit ihren Mauern, dominiert in Derry-Londonderry die Segregation. Die konfessionelle Grenze in der zweitgrössten Stadt des Landes verläuft entlang dem Fluss Foyle. Auf der einen Seite wehen irische Flaggen, am anderen Ufer sind die Steine des Trottoirs in den britischen Farben Weiss, Blau und Rot gestrichen. In den Geschäften ist nicht viel los, wenige Autos rollen über die Hauptstrasse, in den Kaffees sitzen ältere Menschen, trinken Filterkaffee.
Seit 2011 prägt die weisse Friedensbrücke das Stadtbild, die die beiden Flussufer miteinander verbindet. Derry war ein Brennpunkt während der Troubles und galt als Bastion katholischer Rebellen. Es war am 30. Januar 1972, als hier Katholiken für mehr Rechte und gegen Diskriminierung demonstrierten. Britische Soldaten schossen in die Menge. An diesem «Bloody Sunday» eskalierte die Gewalt.
Im Gedenken an die über 3000 Toten des Konflikts brennt am Eingang der Schule Oakgrove eine Kerze. An der einzigen gemischten Sekundarschule in Derry unterrichtet Catherine Fletcher Sport. Die Mutter zweier Kinder besuchte selbst eine katholische Mädchenschule und hatte dennoch früh Kontakt zu «anderen» Mädchen. Denn sie spielte im nordirischen Junioren-Korbballteam. Ohne den Sport, sagt die 38-Jährige, hätte sie vielleicht nie Protestantinnen kennengelernt.
Nicht einmal sechs Prozent der Kinder besuchen in Nordirland gemischte Schulen. Die Norm sind katholische oder staatliche, protestantisch geprägte Schulen. Die Kinder bewegen sich vom Kindergarten bis zur Universität unter ihresgleichen. «Integration ist eine Lebenseinstellung», sagt Fletcher. Sie steht im Trainingsanzug im Flur des Schulhauses, bald ist Sportstunde. «Es spielt keine Rolle, welche Religion wir haben, wir sind alle Menschen.» Das wolle sie ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln.
Im Oakgrove gehen rund 60 Prozent Katholiken und 40 Prozent Protestanten zur Schule. Gemäss Umfragen möchten zwei Drittel der Nordiren ihre Kinder in gemischte Schulen schicken. Weil es aber so wenige gemischte Schulen gibt, wollen nur wenige den langen Schulweg auf sich nehmen.
Auf die Frage, wieso sich die Regierung nicht für mehr gemischte Schulen engagiere, lacht Fletcher nur. «Die können nicht einmal sich selbst organisieren, wie sollten sie dann das Schulsystem ändern?» Sie spricht die Blockade in der Regierung an. Im Januar 2017 eskalierte der Streit zwischen den beiden dominierenden Parteien, der pro-britischen Democratic Unionist Party und der pro-irischen Sinn-Féin.
Die Angst vor neuen Mauern
Im Vergleich mit Derry erscheint der Küstenort Bangor, nördlich von Belfast, geradezu idyllisch. Jollen flitzen über das Meer, Familien spazieren den Strand entlang, farbige Häuser mit Erkern machen Bangor zum perfekten Postkartensujet. Doch so schmuck die Stadt auch ist, in der Küche von Jane Morrice (64) brodeln die Emotionen. Die ehemalige Politikerin ist wütend und frustriert über das Ergebnis der Brexit-Abstimmung. Knapp 52 Prozent der Wähler stimmten 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. In Nordirland sprachen sich 56 Prozent für den Verbleib in der EU aus. Inzwischen lehnen laut Umfragen sogar 69 Prozent den Brexit ab.
Morrice hat eine Petition lanciert, die Nordirland eine EU-Ehrenmitgliedschaft als Ort der globalen Friedensarbeit gewähren will. «Wir können es uns nicht leisten, alle Fortschritte seit dem Friedensabkommen rückgängig zu machen», sagt die ehemalige Leiterin der europäischen Kommission in Belfast. Für Nordirland stehe wirtschaftlich, sozial und politisch mehr auf dem Spiel als für jeden anderen Teil Grossbritanniens. Morrice fürchtet, dass die politische und kulturelle Trennung wieder grösser wird.
Jane Morrice wuchs während der Troubles in Belfast auf. «Ich hasste es und wollte nur noch weg.» Sie ging nach New York. 1987 kam sie zurück, arbeitete für die BBC und die EU. Später wurde sie Mitglied der nordirischen Frauenkoalition, der Northern Ireland Women’s Coalition und war eine der beiden Vertreterinnen in einer der wenigen überkonfessionellen Parteien in der gewählten Volksvertretung. Morrice arbeitete am Karfreitagsabkommen mit (Infotext unten). «Wir fügten eine Kultur der Toleranz ein, die gemischtes Wohnen und gemischte Schulen erleichtern sollte.» Es war die Frauenkoalition, die Gleichheit, Menschenrechte und die Rolle der Frauen auf die politische Agenda setzte.
Brexit und das Buch Ruth
Nach rund zwei Stunden Autofahrt, unzähligen Kurven und atemberaubendem Blick auf Felsen und Meer wartet Ballycastle. Im Ort mit 5000 Einwohnern befindet sich das älteste und bedeutendste ökumenische Friedenszentrum in Nordirland, Corrymeela. Hier trafen sich inmitten der Troubles verfeindete Politiker zu Gesprächen. Heute kommen Studierende aus der ganzen Welt.
Der katholische Theologe Pádraig Ó Tuama leitet die Corrymeela Community. Er hat das Versöhnungsprojekt «Brexit und das Buch Ruth» initiiert. Menschen unterschiedlicher Herkunft und Konfession, Gläubige und Atheisten lesen den Text aus dem Alten Testament über die zwei verfeindeten Gruppen Israeliten und Moabiter. Der Text handelt von verstossenen Frauen, Menschen, die Grenzen überqueren und ihre Feinde stereotypisieren.
«Die im Text beschriebenen Ressentiments helfen uns, über eigene Vorurteile zu sprechen», sagt Páidraig Ó Tuama. In Nordirland sei es schwierig, aufeinander zuzugehen, auch weil den Bewohnerinnen und Bewohnern die gemeinsamen Narrative ihrer Geschichte fehlten. «Wir wollen die Menschen einander näherbringen und Brücken der Verständigung bilden statt Mauern des Misstrauens aufzubauen.»
Brückenbauerinnen und Brückenbauer hat Nordirland nötig. Die Brexit-Abstimmung hat alte Wunden aufgerissen. Reist man durch Nordirland, wird deutlich, dass die Mauern in den Köpfen vielerorts noch vorhanden sind. Doch ebenso der Wille, sie niederzureissen und an einer gemeinsamen Zukunft zu bauen. Bis ein gemeinsames Foto von protestantischen und katholischen Pfarrern eine Selbstverständlichkeit ist.