«Sie wurden von Boris Johnson brutal über den Tisch gezogen»

Nordirland

Der bernische Pfarrer Michael Graf kennt das Land seit Jahrzehnten. Er ist besorgt: Die aktuelle Gewalt mache die gesellschaftlichen Verwerfungen seit dem Brexit deutlich.

Was lösten die erneuten Unruhen in Belfast in Ihnen aus?

Michael Graf: Unbehagen, aber keine Aufregung oder gar Angst. Das Problem ist ja nicht die Randale selbst, sondern der politisch-soziale Kontext. Dank der Deeskalations-Strategie der Polizei und dem grossen Einsatz von Freiwilligen und Professionellen legte sich die Gewalt sehr schnell wieder. Die aktuellen Ausschreitungen haben aber den zugrundeliegenden Konflikt wieder ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt. So richten etwa die USA den Fokus wieder auf diese Region. Sie waren immer schon ein wichtiger Garant der Friedensstabilisierung in Nordirland.

Michael Graf ist Pfarrer in der Kirchgemeine Kirchlindach. Seit vielen jahren bereist er Nordirland und ist verbunden mit Menschen und Landschaften. Buchempfehlung: Michael Graf: Nord-Irland für Reisende. Landverlag 2016.

Sind Sie hier nicht etwas zu optimistisch?

Ich hoffe nicht und glaube es auch nicht, jedenfalls was diese Krawalle betrifft, auch wenn sie natürlich Ausdruck einer politischen Blockade in Nordirland sind. Pessimistischer bin ich allerdings, wenn ich die heftigen Verwerfungen in der Bevölkerung durch den Brexit beobachte. Die grösste britisch-treue Partei, die regierende DUP (Democtratic Unionist Party), pokerte in den Brexit-Verhandlungen zu hoch. Das war fahrlässig und naiv. Nun wurde sievon Boris Johnson brutal über den Tisch gezogen – mit negativen Folgen für die gesamte Region.

Sie meinen die Grenze in der Irischen See, die eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindern soll. Dabei betonte Premier Boris Johnson in den Brexit-Verhandlungen immer, eine solche Grenze werde es niemals geben.

Ja, durch die Zollgrenze ist nun Nordirlands «ewige Einheit» mit Grossbritannien im Kern erschüttert. Das verstärkt die ewige Angst der Unionisten, das Bauernopfer zu sein. Jetzt rollen politische Köpfe in den unionistischen Parteien: sowohl die Regierende Ministerin und DUP-Parteivorsitzende Arlene Foster, als auch ihr Amtskollege bei der kleineren UUP mussten ihr Amt aufgeben. Und wie so oft werden die Parteien nun versuchen, «Profil» zu zeigen, was bedeutet: härtere, einseitigere, polemischere, abgrenzendere Politik.

Die aktuellen Aggressionen sind eine durchaus verständliche Reaktion von schulisch und sozial total abgehängten Jugendlichen.
Michael Graf, Pfarrer

Woher kommen das tiefe Misstrauen und die hohe Aggressionsbereitschaft?

Die aktuellen Aggressionen sind eine durchaus verständliche Reaktion von schulisch und sozial total abgehängten Jugendlichen. Die jungen Nordirinnen und Nordiren in den notorisch schwachen und polarisierten Quartieren vor allem in Belfast und Derry/Londonderry haben kaum Aussichten auf eine eigenwirksame, beruflich erfreuliche und finanziell abgesicherte Zukunft. Sie selber haben die blutigen Konflikte in ihrem Land gar nie erlebt, da seit mehr als zwanzig Jahren mehr oder weniger Frieden herrscht. Aber sie wuchsen in einem Milieu auf, das einen Teil seiner Identität nach wie vor aus dem Konflikt und der damaligen Positionierung bezieht. Und den randalierenden Jugendlichen wird von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen kaum Einhalt geboten.

Der Anteil und die Bedeutung der Britischtreuen nimmt stetig ab.

Ja, das ist eine Tatsache. Und die beiden dominierenden Gesellschaftsgruppen, einerseits die Nationalisten, die einen Staat auf ihrer Insel möchten, andererseits die Unionisten, die bei Grossbritannien bleiben wollen, trennt ein tiefes Misstrauen. Beide Seiten können gewalttätige und tragische Ereignisse aus der Zeit der blutigen Konflikte als Untermauerung hervorholen. Und nun wird auch noch offensichtlich, dass der vermeintliche «Schutzherr» der Union, der britische Premierminister, nicht bloss unzuverlässig ist, sondern brandschwarz gelogen hat.

Die allermeisten Menschen in Nordirland möchten, dass die Querelen endlich ein Ende haben.
Michael Graf, Pfarrer

Sind die Menschen nicht einfach auch erschöpft vom Konflikt?

Einerseits vom Konflikt, aber auch vom jahrzehntelangen Kampf um Gerechtigkeit und Wertschätzung. Die allermeisten Menschen in Nordirland möchten, dass die Querelen endlich ein Ende haben. Sie nehmen dabei in Kauf, dass niemand so genau weiss, wie die Zukunft der Region aussehen wird, und dass man sich vorläufig mit einem «kühlen Frieden» begnügen muss. Doch der Brexit und die damit verbundene Verunsicherung gibt den extremen Kräften wieder Aufschwung. Und die vielen kleinen, aber stetigen Schritte in Richtung eines Mit- statt nur Nebeneinanders, geraten ins Stocken.

Was wünschen Sie sich für das Land, das Ihnen so am Herzen liegt?

Dasselbe wie für andere Orten, an denen mir nahe Menschen leben: dass sie sich verbünden gegen jene Politiker, die aus Spaltung, Trennung, Zwietracht und Neid Profit für sich persönlich und ihre Partei schlagen wollen. Trotz allem habe ich aber grosses Vertrauen in die positive Hartnäckigkeit, den Humor und die Lebensfreude der Menschen in Nordirland.