Recherche 07. Oktober 2022, von Cornelia Krause

«In diesen Zeiten ist es wichtig zu singen»

Krieg

Der ukrainische Oberrabbiner Moshe Reuven Azman hat Tausenden Menschen zur Flucht verholfen. Der gebürtige St. Petersburger nutzt soziale Medien, um Russen direkt anzusprechen.

Sie haben zum Unabhängigkeitstag der Ukraine ein patriotisches Lied aufgenommen. Im Videoclip singen Sie vor ukrainischen Soldaten, in gelben Getreidefeldern, über Ihnen blauer Himmel – in Anlehnung an die ukrainische Flagge. Was hat Sie zu diesem Manifest veranlasst?

Ich habe Bombardierungen mit eigenen Augen gesehen, das hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. In diesen Zeiten ist es wichtig zu singen. Es ist eine Form spiritueller Unterstützung. Wir nehmen jetzt in einem Studio täglich weitere Lieder auf. Der Komponist, der mit dieser Idee auf mich zukam, ist in der Ukraine sehr bekannt. Und wenn der Krieg vorbei ist, machen wir ein grosses Musikfestival.

Sie singen auf Ukrainisch, obwohl Ihre Muttersprache Russisch ist.

Als Zeichen der Unterstützung. Der Song heisst «Ukraine, wir stehen dir bei». Das Singen ist eine Ermutigung für mich selbst, aber auch für Millionen von Menschen. Sie schauen diese Videos an, hören die Lieder und singen mit. In den Texten sage ich, was ich denke.

Sie nutzen die sozialen Medien intensiv, auch um Russen zu erreichen. Nach der Mobilmachung haben Sie russische Juden zur Flucht aufgerufen. Was erhoffen Sie sich?

Ich habe den Juden in Russland schon mehrmals gesagt, dass sie das Land besser verlassen sollten. Der Eiserne Vorhang schliesst sich wieder. Es ist gefährlicher als zu späten Sowjetzeiten, ähnlich wie einst unter dem Diktator Josef Stalin. Werden russische Juden dazu gezwungen, in der Ukraine zu kämpfen, dann werden sie entweder selbst getötet oder sie müssen andere Menschen töten, darunter auch andere Juden. Verweigern sie den Dienst, kommen sie ins Gefängnis. Allerdings schränkt Russland die sozialen Medien stark ein. Ich hoffe, meine Worte finden trotzdem den Weg von einem Herzen zum anderen.

Israel bietet den Flüchtlingen nicht genug Unterstützung.
Moshe Reuven Azman, ukrainischer Oberrabbiner

Entspricht Ihre Haltung auch jener von Rabbinern in Russland?

Vor einigen Wochen, noch vor der Teilmobilmachung, gab es ein Treffen von Rabbinern in Russland, an dem sie noch dafür plädierten, ihre Gemeinschaften beisammenzuhalten. Normalerweise mische ich mich nicht in die Angelegenheiten von Gemeinden im Ausland ein. Aber ich glaube, Russland ist auf dem Weg, ein faschistisches Land zu werden. Ich habe gesehen, wozu die russische Armee in der Lage ist, was sie mit Menschen gemacht hat in Mariupol und anderen Städten.

Israel hat seit Beginn des Kriegs zahlreiche Juden aufgenommen. Doch Russland wollte die Auswanderung einschränken. Wie ist der Stand der Dinge heute?

Kurz nach der Teilmobilmachung wollte der israelische Premierminister notfallmässig Juden aus Russland nach Israel bringen. Aber es ist auch eine Frage der Flugkapazitäten und der Preise. Flüge aus Russland sind innerhalb kürzester Zeit fast unbezahlbar geworden.

Was bedeutet es für Israel, dass in den letzten Monaten viele ukrainische Juden eingewandert sind?

Es ist eine gute Entwicklung für Israel. Aber das Land bietet den Flüchtlingen nicht genügend Unterstützung. Ich war jüngst dort, habe mit Ministern und Abgeordneten gesprochen. Es gibt viele Juden, die in andere Länder Europas geflüchtet sind und dennoch nicht nach Israel einwandern wollen. Denn in Israel sind die Lebenshaltungskosten hoch, es ist schwierig, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Und es gibt viel Bürokratie.

Zu Kriegsbeginn haben Sie Tausenden Menschen in der Synagoge Unterschlupf gewährt, zur Flucht verholfen. Wie ist die Lage jetzt?

Die meisten Menschen, die flüchten wollten, sind gegangen. Diejenigen, die geblieben sind, sind meist alt oder krank. Nun helfen wir teilweise noch bei Evakuierungen, beispielsweise aus Cherson, und bringen die Menschen vorübergehend unter. Aber das sind bei Weitem nicht so viele wie zu Kriegsbeginn.

Was ist noch übrig von den jüdischen Gemeinden in der Ukraine?

In vielen Städten mussten die Synagogen und die Schulen schliessen. In Mariupol ist nichts mehr da, die Stadt ist ausradiert. In anderen Orten wie Czernowitz im Westen haben hingegen viele Juden Zuflucht gefunden. Aus Odessa sind viele nach Berlin geflohen.

Gibt es bereits Rückkehrer?

Nach Odessa sind einige nun zurückgekehrt. Auch bei uns in Kiew sehen wir Rückkehrer, wenngleich wir von einer Normalisierung noch weit entfernt sind. Anatewka, das Dorf, das wir 2015 etwa eine halbe Stunde von Kiew entfernt aufgebaut haben, um Juden aus den Konfliktregionen in der Ostukraine eine neue Heimat zu bieten, ist noch immer eine Durchgangsstation für viele Menschen. Wir organisieren von dort unsere humanitäre Hilfe, und auch die jüdische Schule soll bald wieder den Betrieb aufnehmen.

Ihre Arbeit hat sich verändert. Sie besorgen Generatoren, medizinische Ausrüstung, organisieren Evakuierungen. Sie sind mehr Krisenmanager als Geistlicher.

Das ist so. Aber als Gott uns die Tora auf dem Berg Sinai gab, kamen Spiritualität und Materielles zusammen. Das Anpacken gehört zum Judentum, es ist nicht nur eine Theorie. Natürlich könnte ich jetzt auch viele interessante Worte aus der Tora zitieren. Aber wenn um die Ecke Menschen sterben, nützt uns das nichts. So viele Menschen fragen mich ständig um Hilfe, sie brauchen Geld, eine Unterkunft, ein Auto, damit sie Menschen evakuieren können. Ich begegne täglich Menschen, die ihr Leben für andere riskieren. Ich bin froh, dass Gott mir die Möglichkeit gibt, diese Leute zu unterstützen. Das ist ein grosses Privileg.

Moshe Reuven Azman, 56

Der Rabbiner der Brodsky-Synagoge in Kiew wurde 1966 im heutigen St. Petersburg geboren. Zur Zeit der Sowjetunion engagierte er sich stark für die Ausübung des jüdischen Glaubens. 1987 durfte er nach Israel auswandern und unterstützte dort russische Juden, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Israel zogen. 1995 ging er nach Kiew und baute in der Brodsky-Synagoge eine Gemeinde auf, die zu Sowjetzeiten umgenutzt worden war. 2015 gründete er nahe Kiew ein Dorf für Juden, die wegen des Konflikts in der Ostukraine ihre Heimat verlassen mussten. Seit dem Angriffskrieg Russlands unterstützt er in grossem Stil Flüchtlinge. Jüngst war er am Zionistenkongress in Basel.