Hören Sie die a-Glocke der Stadtkirche Thun – nach, vor und noch einmal nach der Renovation:
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Und die b-Glocke der Kathedrale Solothurn – ebenfalls nach, vor und noch einmal nach der Renovation:
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Die Glocke schwingt, und schon klingt sie. Das scheint einfach, ist in Wahrheit jedoch eine höchst komplexe Angelegenheit. Zumindest, sobald die Glocke gross, schwer und laut wird. Und sobald es darum geht, einen bestimmten Klang zu erzielen, der unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird. Glockenfachmann René Spielmann sagt es so: «Wenn man nur einen Parameter betrachtet, kommt man schnell auf den Holzweg.»
Und Parameter, die den Glockenklang rund um eine Kirche beeinflussen, gibt es viele. Die Glocke selbst ist nur der augenfälligste, bei dem allein schon Grösse, Form, Dicke und das Material eine Rolle spielen. Auch der Drehpunkt ist wichtig: Ob die Glocke an einer Achse oberhalb der Krone – des Befestigungsteils – an einem geraden Joch schwingt oder an einem sogenannten gekröpften Joch, bei dem die Drehachse durch den oberen Glockenteil verläuft.
Ferner bestimmt der Läutwinkel den Klang mit, die Geschwindigkeit der Bewegung, die Form des Klöppels, sein Material, Gewicht und seine Aufhängung. Und schliesslich runden der Antrieb und die Turmarchitektur die Wirkung des Glockenschlags ab.
Alte Stücke. All das ist René Spielmanns Universum. Der Elektroingenieur leitet seit sechzehn Jahren die Rüetschi AG in Aarau, die letzte Kirchenglocken-Giesserei in der Schweiz. Das Unternehmen schaut auf eine Geschichte von bald 650 Jahren zurück: Die älteste Glocke aus Aarau wurde 1367 gegossen, wiegt zwei Tonnen und läutet heute noch in der Kathedrale in Fribourg.
Das ist kein Einzelfall: «Trägt man ihnen Sorge, können Kirchenglocken 400 bis 600 Jahre alt werden», sagt René Spielmann. Das mache sie zu einzigartigen Objekten: «Es sind Kulturgüter unter Maschinenanwendung, oft Teile von denkmalgeschützten Bauten – und es sind Musikinstrumente.» Diese Palette werde bei aktuellen Lärmdiskussionen zu wenig einbezogen, findet der Glockenfachmann.
So geschehen bei den jüngsten Gerichtsentscheiden von Wädenswil und Worb. Diese Fälle liegen jetzt beim Bundes- beziehungsweise beim Verwaltungsgericht. Es sind Klagen gegen die nächtlichen Stundenschläge, durch die sich Anwohner gestört fühlen.
Dabei dauert die entscheidende Phase keinen Lidschlag lang: «Der Aufprall des Klöppels auf die Glocke ist ein Moment von weniger als einer Tausendstelsekunde. Und schon die Verlängerung der Kontaktzeit von 0,3 auf 0,6 Tausendstelsekunden beeinflusst den Klang stark», sagt Spielmann. So werden hohe, metallisch klingende Frequenzen reduziert und tiefe intensiviert – es «tätscht» kaum mehr, der Klang wird weicher.
So kurz der Moment ist, so lang war der Weg zu dieser Erkenntnis. Über Jahrhunderte wurden Glocken enorm langsam weiterentwickelt, ausschliesslich durch Erfahrung. Im Jahr 2000 erhielt Spielmanns Unternehmen den Auftrag für die Restaurierung der Glocken in der Kathedrale von Lausanne. «Sie fragten, ob wir beweisen könnten, was wir behaupteten. Wir mussten sagen: Nein, das ist Erfahrung», erzählt René Spielmann.
Das war der Startschuss für eine intensive Phase der Forschung. Verfügbare Forschungsarbeiten fanden sich keine. Schliesslich gelang es der Aarauer Firma, mit den Universitäten von Padua (Italien), Ljubliana (Slowenien) und der deutschen Hochschule Kempten ein Forschungsprojekt zu intiieren.
Mit Unterstützung aus dem sechsten Forschungsrahmenprogramm der EU konnten ein Projektleiter und zwanzig Assistierende drei Jahre lang forschen. «22 Glocken wurden extra dafür gegossen, die Hälfte davon durchgeläutet bis zum Riss», sagt Spielmann. Und es geht weiter: Seit 2015 bildet das Europäische Kompetenzzentrum für Glocken in Kempten ein eigenständiges Institut.
Neue Wege. Nebst der Untersuchung des Aufprallmomentes ist die Entwicklung eines Simulationsprogramms ein Schwerpunkt. Damit lassen sich Restaurationen günstiger und sicherer umsetzen: «Wir können die Eigenschaften von Klöppel, Glocke und Joch nach Belieben eingeben. Aus der berechneten Anschlagsintensität sind dann wichtige Faktoren wie Klang und Belastung voraussehbar.» Daraus sei ausserdem eine validierte Skala für die Beanspruchung von Glocken entstanden.
Die Forschung zeigt: Klang und Belastung hängen stark zusammen. Und sie zeigt, dass die Klöppel aus dem 11. bis 16. Jahrhundert wenig belastend und schön klingend waren. Mit der Motorisierung wurden sie massiver und Glocken viel stärker belastet. «Ohne Messtechnik und Simulationen sind Fehler aber zu spät erkennbar», sagt Spielmann. Mit den neuen Methoden will er dafür sorgen, dass neue und alte Glocken wie etwa im Berner Münster von der europäischen Forschung profitieren – und auch die Ohren der Anwohner.
