Was eine Darstellung der Arche Noah zu zeigen hat, führt heutzutage zu keinen Diskussionen: Ein Schiff mit vielen Tierpaaren drauf, natürlich. So ist es auch mit anderen Motiven aus biblischen Geschichten. Dass viele aber nicht schon seit Beginn des Christentums so dargestellt worden sind, wie wir sie heute kennen, zeigt sich deutlich an Darstellungen auf Textilien der frühsten Christen aus Ägypten. Solche Objekte finden sich in der Sammlung der Abegg-Stiftung im bernischen Riggisberg. Die Stiftung besitzt äusserst seltene Textilien aus dem 4. bis 5. Jahrhundert nach Christus, die alle in Ägypten gefunden worden sind. Es handelt sich vor allem um grossformatige Wandbehänge, die sich in Gräbern geschützt vor Licht, Wetter und Plünderern über die Jahrhunderte erhalten haben.
Als die Arche Noah noch eine Kiste war
Um die Geschichten ihrer neuen Religion über Bilder zu vermitteln, mussten die frühsten Christen diese erst erfinden. Sie griffen dazu oft auf die Kunst anderer Kulte zurück.
Die Bezeichnung «Kopten» in der Wissenschaft
Die heutigen Kopten sind die Nachfahren der spätantiken Besitzer der Behänge aus der Abegg-Stiftung. Der im späten 19. und 20. Jahrhundert in den historischen Wissenschaften gebräuchliche Begriff «Kopten» beziehungsweise «koptische Kunst» wird heute allerdings nicht mehr für diese Werke verwendet. «Man ging davon aus, dass alle Menschen, die damals in Ägypten lebten, automatisch Christen waren», sagt Kurator Michael Peter. Doch neben dem Christentum existierten damals auch andere Kulte, die ebenfalls Kunst hervorbrachten. Wie die grossformatigen Behänge der Abegg-Stiftung zeigen, waren die Grenzen zwischen den verschiedenen Religionen in dieser Zeit verschwommen. Während man beispielsweise bei der genannten Seide mit den Marienszenen von einem christlichen Werk sprechen kann, sind dessen Urheber nicht automatisch als Christen gemäss heutigem Verständnis identifizierbar. Die Verwendung als Grabbeigabe mit dem heidnischen Dionysosbehang zeigt, dass sich für die damaligen Menschen offenbar beide Kulte miteinander vereinbaren liessen. Insofern sei vieles, was früher in der Wissenschaft eindeutig gewesen sei, heute unsicher geworden und entziehe sich einer genauen Zuschreibung, sagt Peter. Darum wird heute vor allem von spätantiker, in bestimmten Bereichen auch von frühchristlicher oder frühislamischer Kunst gesprochen. «‹Koptisch› bezeichnet die heute lebenden Christen in Ägypten», so Peter.
Einige dieser Textilien zeigen christliche Themen. Sie dienten zur Vermittlung der biblischen Geschichten durch Bilder. Die meisten Menschen konnten nicht lesen und ihnen waren die Geschichten noch nicht präsent. Die Darstellungen auf den Textilien der Abegg-Stiftung lassen heute nachvollziehen, wie die damaligen Christen alte Bilder anderer Traditionen mit neuem Inhalt füllten. Sie zeigen aber auch, dass sich so manche Darstellungsform mit der Zeit gewandelt hat. Wie etwa im Fall der Arche Noah.
Die Bibel wörtlich genommen
Eine Darstellung von ihr findet sich auf einem über vier Meter langen und rund anderthalb Meter hohen in Fragmenten erhaltenen Behang, der mit Szenen aus dem Alten Testament bemalt ist. Es sei eine von mehreren Szenen auf dem Behang, die sehr wörtlich aus der Bibel übernommen worden sei, sagt Kurator Michael Peter. «Die Arche ist hier als Kiste dargestellt, denn der Name Arche leitet sich vom lateinischen Wort arca, die «Kiste» her. Dies sei eine verbreitete Darstellungsform gewesen, zum Beispiel in der Katakombenmalerei. Erst später habe man sich überlegt, dass es sich um ein Schiff gehandelt haben müsse.
Der bemalte Wandbehang stammt aus der Mitte des 4. Jahrhunderts nach Christus. «Das ist der Zeitpunkt, als das Christentum anfing, sich zu etablieren», sagt Peter. Im Jahr 313 nach Christus anerkannte Kaiser Konstantin das Christentum als Religion im Heiligen Römischen Reich. Zuvor wurden die Christen verfolgt. Ihren Glauben konnten sie nur im Verborgenen ausleben. «Eine eigene Bildsprache zu entwickeln, war für die frühen Christen unter diesen Umständen ausserordentlich schwierig. Die Leute waren vielfach auf einfache Symbole oder winzige Darstellungen auf Ringen oder Schmuckanhängern als Glaubenskennzeichen angewiesen», sagt Peter. Für viele christliche Themen gab es keine ältere Bildtradition, so dass sich die Menschen mit bekannten Motiven aus anderen Mythen behalfen.
Den Mythen entlehnt
Ein Beispiel dafür ist die erste Szene auf dem bemalten Behang, die die Erschaffung Evas zeigt: Man sieht einen nackten Mann, aus dessen Seite eine zweite Figur, Eva, herausragt. Auf dem Wandbehang ist zudem eine dritte Figur zu sehen. Anders als in späteren Darstellungen ist es aber nicht Gottvater, sondern eine weibliche Figur mit Schmetterlingsflügeln. Sie ist als «Psyche» beschriftet. Diese Figur stammt aus der griechischen Mythologie, genauer gesagt aus dem Prometheus-Mythos: Der Gott Prometheus erschafft einen Menschen aus Lehm. Die Göttin Athene sendet die Seele – die Psyche – in diesen Erdklumpen und macht ihn so zum lebendigen Menschen. «Das wurde so dargestellt, dass Athene einen Schmetterling in der Hand hält und diesen übergibt. Die Seele wurde aber auch als weibliche Figur mit Flügeln dargestellt», so Peter. Ein Bild, das die damaligen Leute kannten und sich darum eignete die neue, christliche Geschichte verständlich darzustellen. Mit der wachsenden Bekanntheit der biblischen Geschichten wurden ihre Darstellungen eigenständig weiterentwickelt.
Den frühen Christen sei es nicht so sehr darum gegangen, die biblischen Geschichten als einzelne darzustellen, sagt Peter. «Die Szenen auf dem Behang sind vielleicht eher Ausdruck für den Wunsch nach Errettung.» Viele der Szenen handelten davon, wie Gott eingreife und die Menschen rette: Die Arche, auf welcher Menschen und Tiere vor der Sintflut gerettet werden, der Engel, der den gottgefälligen Lot und seine Familie wegschickt, bevor Gott die sündhaften Städte Sodom und Gomorrha zerstört, oder die Israeliten, die durch das geteilte Meer vor dem Pharao und seinen Truppen flüchten können. «Diese Errettungsszenen mit aktivem Eingreifen Gottes spielen im frühen Christentum eine grosse Rolle», sagt Peter. Die Funktion des Behanges sei nicht bekannt, er könne aber als Schmuck eines Grabes gedient haben. «Das würde die Errettungsszenen erklären.» Sie würden dort der Hoffnung, nach dem Tod aus dem Fegefeuer gerettet zu werden, Ausdruck verleihen.
Verschiedene Kulte gleichzeitig gelebt
An den grossformatigen Behängen und weiteren Stücken aus dem spätantiken Ägypten in der Abegg-Stiftung wird auch deutlich, wie in dieser Zeit andere Kulte neben dem Christentum weiterexistierten und auch von denselben Menschen gleichzeitig gelebt wurden. Ein zweiter grossformatiger Behang zeigt den griechischen Weingott Dionysos mit seinem Gefolge beim Fest. Der aus Fragmenten rekonstruierte Behang war ursprünglich über sieben Meter lang und fand zuletzt Verwendung als Grabbeigabe. In ihn eingerollt fanden die Restauratorinnen der Stiftung ein kleines Seidenfragment mit Marienszenen, welches als Fragment einer Tunika identifiziert werden konnte.
Michael Peter
Michael Peter studierte Kunstgeschichte, klassische Archäologie und Literaturwissenschaft in Berlin und Wien. Er ist seit 2002 Mitarbeiter in der Abegg-Stiftung in Riggisberg. Seit 2006 ist er als Kurator verantwortlich für die Textilien von der Spätantike bis zur Romanik, Samte sowie Metall-und Keramikobjekte der Frühzeit. Die Abegg-Stiftung widmet sich seit den 1960er Jahren dem Sammeln, Ausstellen, Erforschen, Konservieren und Restaurieren von historischen Textilien.
Der Dionysoskult sei in der Spätantike sehr verbreitet gewesen und man könne den Behang somit als heidnisches Glaubenszeugnis sehen, sagt Peter. Dass dem Toten mit der Marienseide gleichzeitig ein christliches Zeugnis mitgegeben worden sei, könne vieles bedeuten. «Kann sein, dass der Tote Christ war und den Dionysosbehang schon besass, bevor er den Glauben wechselte. Oder dass es eine Art Zeugnis für Bildung und Kultur war, so wie wir heute die Sagen des griechischen Altertums lesen.» Klar sei es nicht. «Aber offenbar war beides nebeneinander möglich. Man konnte den Dionysos an der Wand haben und daneben mit Maria auf dem Gewand beim Essen sitzen.»
Genau solche Dinge interessieren Peter an der spätantiken Kunst. «Für mich ist das Faszinierendste daran, dass man sieht, wie eine neue Bildersprache entsteht. Wie alte Formen mit neuen Inhalten gefüllt werden, fremde Elemente aufgenommen, weitergeführt und umgedeutet werden», sagt er. Solche Prozesse würden auch heute noch stattfinden.