«Einer Koptin wird ein Fehltritt nicht vergeben»

Die Kopten

Karoline Kamel schreibt Bücher und Zeitungsartikel. Oft handeln die Themen der Koptin von der Frau in der Gesellschaft. Sie sagt, Koptinnen müssten besonders auf ihren Ruf achten.

Ihr Anfang Jahr veröffentlichter Roman «Victoria» handelt von einer jungen Koptin, die vom Nildelta nach Kairo zieht, um Kunst zu studieren. Die Protagonistin ist immer wieder mit Erwartungen der patriarchalen Gesellschaft konfrontiert. Wie erleben Sie diese selbst?

Karoline Kamel: Ich spüre sie ständig, nur schon, weil ich allein wohne. Wenn Leute das hören, fragen sie: Wo ist dein Ehemann? Und sie reagieren schockiert, wenn ich sage, dass ich getrennt wohne. Sie wollen wissen, wie ich so leben kann. Frauen definiert man hier in Beziehung zu anderen: Ich bin Tochter, Mutter oder Ehefrau.

Eine selbstbestimmte Frau ist nicht vorgesehen?

Ich konnte nur mit der Unterschrift meines Ex-Partners eine Wohnung allein mieten. Er unterstützt mich zum Glück. Die Grenzen, die mir gesetzt werden, weil ich eine Frau bin, machen mich wahnsinnig. Manchmal würde ich am liebsten wieder zu meinen Eltern ziehen, dann würde sich niemand mehr um meinen Ruf scheren. Aber dann müsste ich meine Arbeit aufgeben. In meiner Heimatstadt arbeiten Frauen nicht als Journalistin oder Künstlerin.

Der enge Spielraum von Frauen ist in vielen Ihrer Texte ein Thema. Welche Reaktionen erhalten Sie?

Dass ich in «Victoria» so offen über den weiblichen Körper schrieb, löste vor allem Erstaunen aus. Oft bekomme ich Mails, in denen Frauen mir danken, dass ich diese Themen anspreche. Aber auch viele Männer schätzen meine Texte. Denn auch sie leiden unter der patriarchalen Gesellschaft. Geschlechterrollen engen den Spielraum aller Menschen ein.  

Die Grenzen, die mir gesetzt werden, machen mich krank.

Wenn die Medien Ihre Artikel drucken, scheint die Reflexion darüber wenigstens erlaubt zu sein.

Ja, es gibt heute mehr Freiheiten, über Frauenthemen zu berichten. 2021 stellte erstmals ein Gesetz sexuelle Belästigung unter Strafe. Doch im Alltag definiert das Geschlecht noch immer stark meine Möglichkeiten. Stehe ich morgens vor dem Schrank, überlege ich nicht, auf welche Kleider ich heute Lust habe, sondern, in welchen ich am wenigsten auffalle. Viele Frauen entwickeln einen regelrechten Hass auf ihren Körper, denn dieser beschert uns zahlreiche Probleme.

Ist die Bewegungsfreiheit für Christinnen anders als für Muslimas?

In beiden Religionsgemeinschaften hängt die Ehre der Familie von den Frauen ab. Das ist für alle Frauen in Ägypten eine grosse, oft belastende Verantwortung. Da die Christen jedoch eine Minderheit sind und somit sowieso stärker mit ihrem Status in der Gesellschaft konfrontiert sind, stehen Koptinnen unter noch strengerer Beobachtung als Muslimas. Von Christinnen wird erwartet, dass sie still, fromm und bescheiden sind. Ein Fehltritt wird ihnen nicht vergeben.

Sie selbst zogen mit 22 nach Kairo, um Journalistin zu werden. Sind Ihre Eltern liberaler als andere?

Ja, sie haben meinen Bruder, meine Schwester und mich in unseren Plänen stets unterstützt. Zwar musste mein Bruder nicht wie wir Schwestern im Haushalt helfen und abends durfte er öfter draussen sein. Aber mein brachte Vater uns ebenso das Fahrradfahren bei, obwohl es Jungs vorbehalten war. Auch unterstützten mich meine Eltern, in Kairo zu studieren, während sich meine Feunde wunderten, dass ich nicht zu Hause auf einen Bräutigam wartete. 

Sich von der Kontrolle von Patriarchat und Religion zu befreien, ist schwierig und ein langer Prozess. Am liebsten würde ich einfach nach Europa auswandern, als Artist in Residence in Winterthur erlebte ich, wie frei man dort leben kann.

Was ist Ihr Eindruck: Wie stark bestimmt die Religionszugehörigkeit die Möglichkeiten der Ägypter?

Das wichtigste Kriterium ist Geld, das dir zur Verfügung steht. An zweiter Stelle steht die Herkunft: Es ist ein Unterschied, ob du in Kairo, im Nildelta oder in Oberägypten aufgewachsen bist. Die Religion kommt erst an dritter Stelle.

Was würde die Position von Frauen in Ägypten stärken?

Grundsätzlich ist das die finanzielle Freiheit. In Ägypten aber ist die Sache einiges komplizierter. Sich von der Kontrolle von Patriarchat und Religion zu befreien, ist schwierig und ein langer Prozess. Am liebsten würde ich einfach nach Europa auswandern, als Artist in Residence in Winterthur erlebte ich, wie frei man dort leben kann. Mit meinem Beruf aber kann ich nicht dorthin. So versuche ich eben weiter, hier den Frauen Mut zu machen.