Die Liebe zur verrückten Heimat

Die Kopten

Der Besuch bei Kopten in Ägyptens Hauptstadt Kairo zeigt: Die Christen fühlen sich seit einigen Jahren sicherer. Die Gleichstellung der Religionen gibt es dennoch nicht.

Die zwei Polizisten am Eingang interessieren sich nicht für Taschen, sie möchten die Handgelenke sehen. Denn nur wer die kleine schwarze Kreuztätowierung auf dem Unterarm trägt, darf die Kirche St. Mary Ard el-Golf in Kairos Stadtteil Heliopolis betreten. Die jungen Frauen und Männer in Jeans und T-Shirts, die aus allen Richtungen herbeilaufen, halten einem der Polizisten unaufgefordert ihren Arm hin.

Es ist Freitagabend kurz vor 17 Uhr. Gleich beginnt das Gebet der koptischen Gemeinschaft Fy Zel Genaheik. In der holzgetäferten Kirche spielt schon ein Mann Keyboard, einer elektrische Gitarre und ein dritter singt ins Mikrofon. Bald werden alle Kirchenbänke voll sein.

Fünf 19-Jährige probieren neue Glaubenspraxis aus

Fy Zel Genaheik ist in der christlichen Gemeinschaft Ägyptens eine kleine Revolution. Jahrhundertelang hatte niemand gewagt, den traditionellen Gottesdienst infrage zu stellen. Er dauert zwei bis drei Stunden, Liturgie und Gesang sind auf Koptisch, der alten ägyptischen Sprache, die niemand mehr spricht.

Als im Arabischen Frühling 2011 auch die Ägypterinnen und Ägypter gegen ihr Regime protestierten und damit den Rücktritt von Staatspräsident Husni Mubarak bewirkten, wandten sich fünf Männer von der Konvention ab. Sie waren alle 19 Jahre alt, gingen ins selbe Gymnasium und wünschten sich nicht nur eine Erneuerung der Politik, sondern auch in der Kirche. In der Kapelle im Untergeschoss der Kirche St. Mary Ard el-Golf probierten sie eine neue Glaubenspraxis aus.

Die Revolution brachte wenigstens in die Kirche etwas frischen Wind.
Fady Saad, Gründungsmitglied Fy Zel Genaheik

Auch heute Abend sind sie hier, inzwischen 31 Jahre alt. Nach der Feier von Fy Zel Genaheik zeigen sie die fensterlose, mit Ikonen geschmückte Kapelle. Einer von ihnen ist Fady Saad.

Der kleine Mann im pinken T-Shirt erzählt, wie alles begann: «Im Arabischen Frühling verloren wir jeglichen Halt. Freunde von uns wurden in Demonstrationen getötet. Verzweifelt suchten wir Kraft im Glauben.» Die Gottesdienste seien ihnen zu konservativ gewesen, weshalb sie beschlossen, einfach zu fünft zu beten und moderne Lieder zu singen – und zwar auf Arabisch.

«Nach einigen Monaten luden wir Freunde ein. Erst waren sie skeptisch und blieben fern, doch dann kamen sie, und dann wurden es immer mehr. Heute sind wir oft rund 1000 Leute.» Der Arabische Frühling verhalf Ägypten nicht zu mehr Demokratie, doch trug er wenigstens etwas frischen Wind in die Kirche. Fady Saad strahlt, als er sagt: «Vor zwei Monaten machte der Bischof erstmals Werbung für uns!»

As-Sisi eröffnete eine Kathedrale

Mit dem Arabischen Frühling änderte sich für die Kopten noch etwas. Für Christen, die je nach Quelle zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hatte sich die Sicherheitslage seit den 1970er-Jahren permanent verschlechtert.

Den Grundstein legte damals Präsident Anwar as-Sadat, der wiederholt betonte, er sei ein muslimischer Präsident eines muslimischen Landes. Der Sechstagekrieg 1967 gegen Israel, konservativ-muslimische Ideale, die ägyptische Gastarbeiter aus den Golfstaaten heimbrachten, und das Erstarken des IS taten das Ihre dazu. Immer wieder gab es Anschläge auf Kopten und Kirchen.

Fotograf Roger Anis

Roger Anis, 37, arbeitet für nationale und internationale Medien und wurde mehrfach ausgezeichnet. Seine Fotos wurden u. a. in Ausstellungen in Paris, Russland, Mali und den USA gezeigt. Anis wurde in Al-Minya, Oberägypten, geboren. Er dokumentierte die sozialen und politischen Umwälzun-gen, die sich seit 2011 in Ägypten ereignet haben, darunter die Angriffe auf koptische Christen.

Die Gewalttaten erreichten einen Höhepunkt nach dem Sturz Mubaraks 2011. Der neue Präsident Mohamed Mursi versprach, das Land weiter zu islamisieren, über 100 Kopten wurden in dieser Zeit getötet. Und nochmals, nachdem 2013 der gemässigte Muslim Abd al-Fattah as-Sisi in einem Militärputsch an die Macht gekommen war und einen harten Kurs gegen fundamentalistische Muslime fuhr, um den Widerstand im Keim zu ersticken. Die Kopten galten als Sündenböcke für die repressive Politik, 100'000 von ihnen verliessen damals das Land.

Doch dann drehte der Wind, denn unter Präsident as-Sisi wurde Ägypten zum Überwachungsstaat. Eine Massnahme war Sicherheitspersonal vor sämtlichen öffentlichen Einrichtungen, auch die Kirchen. Auch beschwört as-Sisis immer wieder die Einheit von Christen und Muslimen, jedes Jahr besucht er einen Weihnachtsgottesdienst.

Grösste Kathedrale Afrikas 2019 eröffnet

As-Sisis stellte Hassreden gegen religiöse Minderheiten unter Strafe, der Staat übernahm die Kontrolle über die Ausbildung von Imamen. Auch verfügte er Quoten im Parlament, erlaubte den Bau und die Legalisierung von Kirchen und eröffnete 2019 mit dem koptischen Papst Tawadros II. in Neu-Kairo die grösste Kathedrale Afrikas. Seit 2018 gab es kaum noch Anschläge auf Kopten.

Unter as-Sisi fühlen sich viele Kopten sicherer, die Wiederwahl am 10. Dezember dürften wohl die meisten unterstützen. Die Wirtschaftskrise sowie Korruptionsskandale hatten seinem Ruf zwar geschadet, dass er Ägypten bisher aus dem Krieg zwischen Hamas und Israel heraushalten konnte, festigte nun aber wieder seine Position.

Manchen Kopten geht der Einsatz des Präsidenten für den Religionsfrieden hingegen zu wenig weit. Darüber zu sprechen wagen allerdings nur wenige. Einer ist Ishak Ibrahim, Leiter der Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte. Die von der EU und UNO finanzierte Nichtregierungsorganisation in Kairo hat ihren Sitz im Geschäftsviertel Dokki.

In den Büros, zu denen ein wackeliger Lift führt, arbeiten 35 Wissenschaftler, Anwältinnen und ehemalige Journalisten. Sie dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, führen Statistiken und vertreten gratis inhaftierte Systemkritiker vor Gericht. Darunter befinden sich auch zahlreiche Jugendliche, die auf Tiktok blasphemische Witze machten.

Ibrahim sagt: «In Ägypten werden Bürgerrechte immer mehr eingeschränkt, das unterdrückt extremistische Tendenzen. Doch um eine echte Verbesserung der Situation religiöser Minderheiten herbeizuführen, müssten Staat und Religion getrennt und die Religionsfreiheit gesetzlich garantiert sein.» Denn solange das ägyptische Gesetz auf islamischem Recht basiere, sei keine Veränderung in Sicht. «Den Kopten geht es jetzt besser, weil der aktuelle Präsident ihnen wohlgesinnt ist. Was geschieht, wenn der nächste eine andere Meinung vertritt?»

Kaum Kopten beim Staat

Die koptische Kirche zählt zu den ältesten der Welt. Ihren Grundstein legte der Evangelist Markus, der in Alexandria gelebt haben soll. Die Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten im Matthäusevangelium betrachten die Kopten als historisches Erbe.

Die Kopten wurden mit der Islamisierung, die im fünften Jahrhundert nach Christus begann, zur Minderheit, doch auch heute noch gibt es Dörfer in Oberägypten, wo sie die Hälfte der Bewohner stellen. Rund 90 Prozent der Christen sind koptisch-orthodox, der Rest katholisch, protestantisch oder griechisch-orthodox. Die meiste Zeit haben sie friedlich mit Muslimen zusammengelebt, oft besucht man sich gegenseitig an den religiösen Festen.

Ohne Trennung von Kirche und Staat hängt unsere Sicherheit vom Präsidenten ab.
Ishak Ibrahim, Leiter EIPR

In Kairo ist die Koexistenz von Muslimen und Christen überall sichtbar. In den Basaren hängen im einen Laden Bilder von Jesus oder Maria, aus dem nächsten schallen Koranrezitationen aus Musikboxen. An den Rückspiegeln der Taxis baumeln abwechselnd muslimische Gebetsketten oder Marienbilder. Und überall in der Stadt stehen Kirchen, zumeist nahe bei Moscheen. Auf ihre Religion angesprochen, sagen sowohl viele Christen als auch Muslime, dass der Glaube wichtig für ihre Identität sei, sie sich zunächst aber als Ägypter fühlten, mit der Wirtschaftskrise als grösster Sorge.

Die Ungleichbehandlung der Kopten zeigt sich vor allem auf institutioneller Ebene. So muss der Staatspräsident Muslim sein, und auch in den staatlichen Institutionen sind nur wenige Christen zu finden. Karriere machen sie stattdessen in der Privatwirtschaft und im Handel. Unter den reichsten Ägyptern sind sie überproportional vertreten, darunter die Familie Sawiris, deren Spross Samih durch sein Tourismusprojekt in Andermatt bekannt wurde.

Diakonie für Tausende

Präsent sind die Christen auch im Bildungswesen. Die vielen teuren, von koptischen Unternehmern und katholischen Kirchen finanzierten Privatschulen ziehen auch wohlhabende muslimische Familien staatlichen Schulen vor. Diese haben allgemein einen schlechten Ruf.  

Eine reiche Koptin schuf aber auch für die Ärmsten im Land 100 Schulen, fünf davon befinden sich in Kairos Stadtteil Manschiyyet Nasser. Auf dem Weg dorthin sagt der Taxifahrer, dass er den Stadtteil bisher gemieden habe, er selbstverständlich schon von «Mama Maggie» gehört habe – jener 2012 für den Friedensnobelpreis nominierten Frau, die vor 33 Jahren ihren Job als Professorin für Informatik an den Nagel hängte, um sich fortan im weissen Baumwollgewand um Kinder aus armen Familien zu kümmern.

Während er durch die engen Strassen voller Pick-ups und Eselskarren navigiert, sagt er entsetzt: «Nie mehr komme ich hierher!» Am Fuss des Muqattamhügels leben 70'000 Menschen unter prekärsten Bedingungen. Es sind Kopten, die nicht zur Wirtschaftselite gehören.

Auf der Flucht vor Armut und Verfolgung haben sie sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts hier angesiedelt und machen die Drecksarbeit: Die Männer, Frauen und Kinder sammeln und rezyklieren den Müll der 20-Millionen-Metropole. Auf den Strassen, in den Höfen und sogar in den baufälligen Wohnungen türmen sich die Abfallsäcke, die Luft riecht faulig. Strom- und Wasserleitungen sind praktisch keine zu sehen.

Gäbe es hier nicht die Schulen von Mama Maggies Hilfswerk Stephen’s Children und der NGO Association for the Protection of the Environment, die eine belgische Nonne gründete, wären die Menschen hier ihrem Elend überlassen. Dank ihnen schaffen jährlich Hunderte Schulabsolventen den Sprung aus der bitteren Armut.

Klösterliche Friedensarbeit

«Ich weiss nicht, warum der Staat nichts gegen die Armut und die hohe Analphabetenrate macht», sagt Mama Maggie freundlich lächelnd auf der Terrasse eines Schulheims für Kinder aus armen Familien. Statt über die vielen Steine, die der Staat dem Hilfswerk in den Weg legt – wie zum Beispiel jahrelang hinausgezögerte Bewilligungen –, spricht sie lieber über die Kraft des christlichen Glaubens und ihr unerschütterliches Vertrauen auf das Gute.

Das Beste aus dem Menschen herauszuholen, daran arbeitet 70 Kilometer nördlich von Kairo eine ganze Ordensgemeinschaft. Im Natrun-Tal mitten in der Wüste gründete 1999 der charismatische Bischof Thomas von Al-Qusiyya und Mair in Oberägypten einen eigenen Orden mit dem Namen Anafora, der Aufsehen erregte. Anders als in den anderen klösterlichen Orden leben in Anafora sowohl Nonnen als auch Mönche und Priester und führen in geteilter Verantwortung ein spirituelles Bildungszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Als Kirchenmann muss ich für alle da sein. Begebe ich mich auf die eine Seite, verliere ich die andere.
Thomas von Al-Qusiyya und Mair, koptischer Bischof und Gründer des Ordens Anafora

Auf dem Programm stehen neben klassischem Schulunterricht auch Seminare zu Nachhaltigkeit, Menschenrechten und christlichem Management sowie Berufsbildung und Empowermentprojekte für Frauen. Wöchentlich reisen Gruppen junger Kopten aus Kairo an, der weltoffene Geist, die farbenprächtigen Gebetsräume und die lauschigen Aufenthaltsorte unter Palmen stossen auf viel positive Resonanz.

Während im Baum über ihm eine Taube gurrt und zwischendrin das Gebet eines Muezzins vom nahe gelegenen Dorf herüberhallt, legt Bischof Thomas im Korbstuhl auf der Terrasse des Haupthauses die Vision von Anafora dar: «Im Lauf der Jahrhunderte wurde soziale Gerechtigkeit politisiert. Wir möchten, dass sie spiritualisiert wird, dass Gerechtigkeit eine innere Haltung ist: Ich helfe anderen, weil ich es gut habe und weiss, dass auch ich nicht ohne Mitmenschen leben kann.» Das möchten sie den Menschen, die nach Anafora kommen, mitgeben. Gelinge es, diese Haltung in der Welt zu verbreiten, gebe es Frieden.

Verrückt und liebenswert

Bischof Thomas nimmt häufig an interreligiösen Tagungen teil, auch ist er Mitglied des Ökumenischen Rats der Kirchen. In die Politik seines Landes möchte er sich jedoch nicht einmischen. «Als Kirchenmann muss ich für alle da sein. Begebe ich mich auf die eine Seite, verliere ich die andere.» Politik und Gesellschaft könne man nur verändern, indem man konstruktiv für Frieden eintrete. «Religion soll der Gemeinschaft helfen und sie nicht spalten.»

Auch die Gründungsmitglieder von Fy Zel Genaheik waren alle schon in Anafora. Darauf angesprochen, sagen sie ganz schwärmerisch: «Ein wunderbarer Ort!» Wie jeden Freitag nach dem Gebet in der Kirche in Heliopolis sitzen sie auf der Dachterrasse eines Familienrestaurants und teilen sich Fetir, eine Art Blätterteigpizza. Auch andere aus der Kirche sind da, insgesamt sind es 14 Frauen und Männer.

Alle haben sie gute Ausbildungen, und fast alle waren schon einmal in Europa. So auch Fady Saad, der von Beruf Zahnarzt ist. Er sagt: «Ägypten ist ein anstrengendes Land. Die meisten von uns würden gern in Europa arbeiten, aber das ist nicht einfach.» Samuel el-Komos, ein Ingenieur, der neben Saad sitzt, nickt und sagt dann grinsend: «Aber gerade weil sie so verrückt ist, lieben wir unsere Heimat.»