Durch «MeToo» und den Frauenstreik war die Geschlechterdebatte in den letzten Jahren sehr präsent. Ist das Thema nicht durch?
Alain Gloor: Nein, es wird nach wie vor viel darüber gestritten: Die einen finden, man kann nicht genug darüber sprechen, andere können es nicht mehr hören. Andere haben gar nie wirklich davon gehört. In ersten Recherchegesprächen wurde schnell deutlich: Hinter den Hashtags und Reizworten stecken spannende Geschichten, über die wir diskutieren müssen. In diesem Sinne soll die Ausstellung Menschen ins Gespräch bringen über die Fragen, die hinter der manchmal lauten Debatte stehen.
Welche Fragen sind das?
Wie entsteht Geschlecht überhaupt? Wie leben wir es? Geschlecht entsteht einerseits biologisch, und da ist die Ähnlichkeit zwischen den Geschlechtern viel frappanter als ihre Differenz. Es wird aber auch durch Erziehung, durch gesellschaftliche Normen geformt. Geschlecht ist ein Teil von unserem Sein und Denken. Das macht es zu einem sehr persönlichen Thema. Es geht um die Identität des Menschen.
Warum blieb die männliche Dominanz über Jahrhunderte bestehen?
Die Historikerin Caroline Arni sagt, dass das Geschlecht als Stellungsmerkmal wohl nie wichtiger war als seit der Entwicklung des modernen Staats. In der Standesgesellschaft etwa war es weniger zentral. Ein Bauer, obwohl Mann, hatte nichts zu sagen. Darum müssen wir vorsichtig sein, wenn wir in die Vergangenheit schauen. Arni wirft auch die Frage auf, ob die Dominanz daher rührt, dass Männer Angst haben, dass Frauen sagen: Wir machen nicht mehr mit. Wir gebären keine Kinder mehr. Frauen zu unterwerfen wäre eine Reaktion darauf: Kommt ja nicht auf schräge Gedanken!
Inwiefern hatte die Entwicklung des modernen Staates mit der Geschlechterhierarchie zu tun?
Seine Gründung fiel zusammen mit der Aufklärung. Religion reichte nicht mehr aus, um die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zu legitimieren, also argumentierte man biologistisch, obwohl biologische Unterschiede bis dahin kaum eine Rolle spielten.
Den prägendsten Einluss in der Geschichte der Geschlechterverhältnisse dürfte – zumindest im christlichen Raum – die Bibel gehabt haben. Gemäss Genesis schuf Gott die Frau aus einer Rippe von Adam – und damit die Hierarchie.
Die Bibel ist in ihrer Bedeutung für das Geschlechterverhältnis kaum zu überschätzen. Eine wichtige Rolle spielte Augustinus, der die Schöpfungsgeschichte von Frau und Mann interpretierte. Gemäss ihm hatte Gott den Menschen als sein Abbild, als Frau und Mann geschaffen, als Idee entstanden also beide gleichzeitig. In der Umsetzung aber schuf Gott zuerst Adam und dann aus seiner Rippe Eva. Vor Gott sind Frau und Mann gleichwertig, im Verhältnis zueinander aber ist die Frau dem Mann nachgeordnet. Das wirkt bis heute nach. «Adam» bedeutet auf Hebräisch «Mensch». Das englische Wort «Man» bedeutet gleichzeitig «Mann» und «Mensch», ebenso das französische «homme».
Mannsein und Menschsein fallen zusammen. Die Frau ist die Abweichung der Norm.
Genau. Und das hat zu unermesslichem Leid aufseiten der Frau geführt. Die Norm vertreten zu müssen macht es dem Mann aber auch nicht einfach. Er hat zwar das Sagen und kann auf den ersten Blick tun und lassen, was er will, doch die Norm steckt zugleich enge Grenzen. Ein Beispiel: Lackiert ein Mann auch nur einen Fingernagel, fällt das sehr auf. Oder drastischer: Ein «echter» Mann darf keine Schwäche zeigen. Nicht zufällig nehmen sich viel mehr Männer als Frauen das Leben.
Welche ist heute die grösste Baustelle in der Geschlechterdebatte?
Was in der Realisierung der Ausstellung oft genannt wurde, war die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Schweiz ist im Vergleich zu vielen anderen Ländern Europas konservativ, nicht nur auf Gesetzesebene. Dabei ist die erwerbstätige Frau historisch der Normalfall. Die Hausfrau hatte Mitte des 20. Jahrhunderts ein kurzes Stelldichein, das 1968 schon wieder passé war. Doch das Idealbild der Mutter daheim bestimmt die Schweiz und ihre Politik weiterhin hartnäckig.
Meiner Mutter wurde noch das Stimmrecht verweigert, für meine Tochter liegt das gefühlte Jahrhunderte zurück. Wie schafft es die Ausstellung, beide anzusprechen?
Wir verführen sie dazu, sich Fragen zu stellen, egal, wo sie im Leben stehen. In einer Installation geht es zum Beispiel darum, wie sich verschiedene Menschen kleiden und schminken und so Geschlecht herstellen. Das ist keine Frage des Alters, und doch eine Frage der Generation. An einer anderen Stelle kann man sich überlegen, ob man sein eigenes Geschlechtsteil unter vielen erkennen würde. Die Besucher setzen sich mit sich selbst auseinander, mal ernst, mal spielerisch.
Was nehmen denn Sie persönlich aus dieser Auseinandersetzung mit sich selber mit?
Etwas berührte mich besonders: Warum fällt es uns oft so schwer, Menschen, die in keine Kategorie passen, Würde zuzugestehen? Natürlich, Kategorien geben Orientierung. Werden sie infrage gestellt, kann das verunsichern. Doch gleichzeitig schränken sie uns ein. Gehen wir davon aus, dass das eigene Geschlecht mitbestimmt, wie ich lebe und die Welt erfahre, wird deutlich, dass es unheimlich viel zu gewinnen gibt. Wenn wir die Frage nach dem Geschlecht ernst nehmen, dann tut sich vielleicht wie nirgendwo sonst die Möglichkeit auf, freier zu leben.
Recherche 29. Oktober 2020, von Anouk Holthuizen
Neue Ausstellung im Stapferhaus zu den Geschlechter
Geschlechterdebatte
Die neue Ausstellung führt die Besucher an ihre Identität heran. Projektleiter Alain Gloor glaubt, dass eine offenere Auseinandersetzung mit den Geschlechtern befreiend wirkt.
Alain Gloor und sein Ausstellungsteam wollen mit "Geschlecht. Jetzt entdecken" zum Dialog anregen
