Recherche 28. Juli 2021, von Noah Pilloud

Eine Altlast, von der nur wenige wissen

Geschichte

Am 23. August erinnert man sich an den Sklavenhandel und seine Abschaffung. In der Schweiz findet der Tag kaum Beachtung, obwohl auch sie Anteil am Kolonialismus hatte.

Wer mit Hans Fässler spricht, beginnt das Ausmass der Schweizer Beteiligung an der Sklaverei zu verstehen. Schon nur im Kanton Bern kennt der Historiker etliche Beispiele: «Das Schloss Schadau in Thun etwa wurde mit Geld der Familie de Rougemont gekauft und neu gebaut – Geld, das zum Teil durch die Arbeit von Versklavten erwirtschaftet wurde.» Ferner, erzählt Fässler, war der alte Staat Bern von 1819 bis 1834 mit Abstand der grösste Aktionär der britischen Handelsgesellschaft South Sea Company – eine wichtige Akteurin im Handel mit versklavten Menschen.

Mit Schweizer Geld wurden 172 000 Versklavte verschifft.
Hans Fässler, Historiker

Fässler ist ein Experte auf dem Gebiet und leistet mit zahlreichen Veröffentlichungen einen Beitrag zur Aufarbeitung der Schweizer Kolonialgeschichte. «Mit Schweizer Geld sind nach Schätzung des Historikers Bouda Etemad insgesamt 172 000 Versklavte verschifft worden», berichtet er.

Neue Unterrichtsmaterialien

Die Schweiz hatte weder Kolonien, noch war sie eine Seefahrernation. Dennoch ist heute klar, dass auch sie eine koloniale Vergangenheit hat, von der allerdings kaum jemand weiss. Lange blieb in der öffentlichen Debatte und im Schulunterricht unerwähnt, dass sich zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer an einem der grössten Verbrechen an der Menschheit beteiligten und davon profitierten.

Die Stiftung Cooperaxion dokumentiert in ihrer Datenbank in über 200 Einträgen die Beteiligung verschiedener Schweizer Akteurinnen und Akteuren im Handel mit versklavten Menschen. Die Stiftung bietet auch Stadtrundgänge in Bern, Neuenburg und Fribourg an, mit der Karte Bern Kolonial lassen sich die Spuren des Kolonialismus in der Stadt Bern auch digital verfolgen (reformiert.info berichtete).

Ein Vorstoss im bernischen Grossen Rat fordert nun, dass dieses Wissen zukünftig im Schulunterricht besser vermittelt wird. Entsprechendes Unterrichtsmaterial werde erstellt, bestätigte die Bildungsdirektion auf Anfrage. Im Verlauf des kommenden Schuljahres werde es bereitstehen. Überarbeitete beziehungsweise ganz neue Lehrmittel seien unbedingt nötig, findet Mandy Abou Shoak. Sie setzt sich für Menschenrechte ein, arbeitet an einer Schule und hat gemeinsam mit Rahel El-Maawi Sek-Lehrmittel auf Rassismus untersucht. Das Fazit: Rassistische Begriffe und Stereotype werden unkommentiert verwendet, Berichte über den Widerstand von Versklavten kommen kaum vor, und die Rolle der Schweiz wird selten hinterfragt.

Es ist unmöglich, den Rassismus von heute zu verstehen, ohne die Schweizer Kolonialgeschichte zu kennen.
Mandy Abou Shoak, Menschenrechtlerin und Sozialarbeiterin an einer Schule

Rassistische Begriffe und Stereotype werden unkommentiert verwendet. Dabei sei das Wissen um die Zustände von damals elementar wichtig, ist Abou Shoak überzeugt. «Es ist unmöglich, den Rassismus von heute zu verstehen, ohne auch die Schweizer Kolonialgeschichte zu kennen.» Damit meint sie nicht die Gesinnung Einzelner, sondern ein Denksystem, das sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lässt und noch in der Gegenwart Teil unserer Gesellschaft ist. Das koloniale Erbe zeigt sich aber nicht nur in unserer Denkweise. Die moderne Schweiz hätte sich, wie der Historiker Hans Fässler betont, ohne Kolonialismus so nie entwickelt: «Ohne Sklaverei keine Baumwolle und ohne Baumwolle keine Industrialisierung und somit auch keine moderne Schweiz.»

Die Kennzeichnung problematischer Erinnerungsorte wäre ein gutes Signal.

Wandel braucht Zeit

Wenn also am 23. August der Sklaverei und ihrer Abschaffung gedacht wird, muss die Schweiz und ihre Gesellschaft anerkennen, dass historisch ein Teil ihres Wohlstands auf der Ausbeutung unfreier Menschen beruht. Und dass Teile dieser Denktradition bis heute nachwirken. Mit diesem Erbe umzugehen ist nicht einfach, und der Wandel hin zu einem sensibleren Umgang braucht Zeit, da sind sich Mandy Abou Shoak und Hans Fässler einig. Die Kennzeichnung problematischer Erinnerungsorte wäre hierzu ein gutes Signal. Nach einem Vortrag von Hans Fässler in Zusammenarbeit mit Thunensis ist in Thun etwa der Wunsch nach einer ergänzenden Tafel am Rougemontweg laut geworden.