Recherche 09. September 2019, von Constanze Broelemann

Die Wende in Karl Barths Denken

Theologie

Die Liebe Karl Barths zu Charlotte von Kirschbaum veränderte nicht nur das Privatleben des Theologen sondern hatte auch grossen Einfluss auf sein Werk.

In Ihrem neuen Roman «Zu Dritt» konzentrieren Sie sich auf das
Privatleben von Karl Barth. Warum?

Klaas Huizing: Um Zeitgeschichte zu erhellen, ist es hilfreich, auch die private Situation eines Menschen zu kennen. Bei Karl Barth stellt sich nicht erst seit heute die Frage, gibt es eine radikale Wende in seinem Denken und ist diese von seinem Privatleben beeinflusst?

Inwiefern hat das Private Barths Theologie beeinflusst?

Ich denke, Barth entwickelt sich von einem Gerichtspropheten zu einem Heilspropheten. Das ist die radikale Wende von seinen frühen zu seinen späten Schriften. Auf die Frage, ob es für diese Wende auch private Gründe gegeben hat, würde ich sagen «ja». Die grosse Liebe, die auf ihn zugerauscht ist und der er sich auch ergeben hat, veränderte seine Weltsicht stark. Dieses Liebeswiderfahrnis war Charlotte (Lollo) von Kirschbaum.

Es gab Kritik an Ihrer Darstellung des Dreiecksverhältnisses von Barth, seiner Frau Nelly und seiner Freundin Charlotte. Warum?

Man muss die Kontexte sehen. Dass beispielsweise Enkel ein besonderes Verhältnis zu der Portalfigur der Theologie, Karl Barth, haben, ist verständlich. Andererseits hat die Theologie die Frage von Sexualität über Jahrhunderte kaum bearbeitet, ja sogar verdrängt − mit katastrophalen Folgen. Das wollte ich in diesem Roman nicht wiederholen. Karl Barth hat diese Liebe sehr unverklausuliert gelebt und sein engeres Umfeld wusste das. Barths Liebesbriefe an Lollo von Kirchbaum sprechen eine eindeutige Sprache.

Gibt es Hemmungen, auch diese Seite von Karl Barth zu sehen?

Ja, da ist sicher Aufklärung nötig. Seit dreissig Jahren versuchen wir in der wissenschaftlichen Theologie verstärkt auf Körperlichkeit und Emotion zu achten. Wir rücken den Körper ins Zentrum, um die Engführung auf den Geist zu vermeiden. Meines Erachtens brauchen wir in der Theologie eine unverklemmtere Sicht auf das Thema Sexualität. Das macht uns als Kirche lebenstauglich und gegenwartstüchtig. Aus kirchlichen Kreisen muss es zunächst ganz klar heissen: Sexualität ist positiv.
Wie verbreiten die Kirchen Ihrer Meinung nach eine körperfeindliche Atmosphäre?
Ich denke, wir unterschätzen den augustinischen Schleier in Fragen der Sexualität. Der beinhaltet die Vorstellung, dass über die Sexualität die Erbsünde weitergegeben wird. Auch wenn wir in der Wissenschaft weit darüber hinweg sind, ist dieses Denken in der Volksreligiösität noch verankert und wird immer wieder bedient.

Und wo soll sich die evangelische Kirche im Umgang mit Sexualität positionieren?

Erstes Anliegen der Kirche muss sein, Sexualität von Sünde zu trennen. Dann stellt sich die Frage nach einer Ethik, nämlich dass Sexualität ein Geschehen auf Augenhöhe und Reziprozität sein muss.

Wenn wir schon bei Fragen der Gleichwertigkeit sind, zurück zu Barth. Was glauben Sie, wie haben sich Nelly und Charlotte gefühlt?

Der Roman handelt im Grunde genau davon, wie dieses Dreicksverhältnis emotional zu händeln war. Es ist ganz klar, dass es teilweise eine sehr schwierige und leidvolle Situation war. Irgendwann haben sich Karl, Nelly und Charlotte mit dieser auch schrägen Situation abgefunden. Lollo von Kirschbaum wurde mit Anfang sechzig dement. Es ist davon auszugehen, dass das private Drama Einfluss auf die frühe Erkrankung hatte.

Ist Karl Barth durch diese Erfahrung verständnisvoller für Menschliches geworden?

Ja, so würde ich das sehen. Die Entdeckung des menschlichen Gottes war auch in der Erfahrung begründet, dass ein Gerichtsgott unter Umständen nur die halbe Wahrheit ist. Charlotte hatte grossen Einfluss auf Karl Barths Denken. Die beiden sassen bis zu sieben Stunden täglich nebeneinander und schrieben. Natürlich hat das Privatleben das Werk Barths geprägt.
 
Warum ist Karl Barth noch heute interessant für uns Menschen innerhalb und ausserhalb der Kirche?

An erster Stelle, weil Barth ein poli­tisch hochsensibler und weitsichtiger Mensch war. Der einzige Theologe der neueren Zeit, der mit seinen Einschätzungen derart richtig gelegen hat. Barth war entschiedener Gegner zweier Weltkriege und des Kalten Krieges. Vielleicht hat ihn seine Christozentrik vor manchen Fehleinschätzungen der Geschichte bewahrt. In der Schweiz scheint Karl Barth heute jedoch wenig präsent zu sein. Das ist für mich unverständlich. Man kann ohne Frage stolz auf den vielleicht grössten Theologen des 20. Jahrhunderts sein.

Klaas Huizing, 60

Der deutsch-niederländische Schriftsteller und Theologe lehrt an der Universität Würzburg (D) Systematische Theologie und Gegenwartsfragen. Neben dem Roman «Zu Dritt» veröffentlichte Klaas Huizing unter anderem seine theologische Ethik «Scham und Ehre».

Klaas Huizing: Zu Dritt, Klöpfer & Meyer, 2018, 400 Seiten, Fr. 29.50.