Ein Schweizer in grossen Fussstapfen

Porträt

Der Solothurner Andreas Reize leitet neu den Thomanerchor in Leipzig, einen der berühmtesten Knabenchöre der Welt. Damit ist er ein Amtsnachfolger von Johann Sebastian Bach.

Leipzig im Februar, Nieselregen. Grau in grau präsentiert sich die Musikstadt, die bekannt ist für das Gewandhausorchester, die Oper und den Thomanerchor mit seiner 800-jährigen Geschichte und dem allerberühmtesten seiner Kantoren, dem grossen Komponisten Johann Sebastian Bach. In den schwach beleuchteten Gängen des Internats, in dem die Thomaner leben, ist es still. Eben noch waren die Jungs im Alter von neun bis 18 Jahren beim Mittagessen, lachten und redeten über Fussball.

Mehr als 800 Jahre umfasst die Geschichte des Thomanerchors Leipzig, er ist damit die älteste kulturelle Einrichtung der Stadt Leipzig. www.thomanerchor.de

Nun singen sie, wie jeden Nachmittag, im grossen Saal. «Oh Haupt voll Blut und Wunden» wird geprobt, der Choral aus Bachs Matthäuspassion. Im Bass und Tenor sitzen aufgeschossene junge Männer lässig auf den Stühlen. Die Buben im Alt und im Sopran verschwinden beinahe hinter den riesigen Notenheften. «Bitte aufstehen!», ruft Andreas Reize in den Saal. Der Dirigent fordert Konzentration.

Für ihn ein Traumjob

Auch Reize ist höchst präsent, sein Körper wie der einer sprungbereiten Katze. Er nimmt alles auf: die Stimmen, die Klänge, auch das Ruckeln eines Stuhls. Er denkt schnell, spricht schnell, hat das Werk und jeden einzelnen Sänger im Blick. Für den 46-Jährigen ist es der Traumjob schlechthin: «Den Thomanerchor leiten zu dürfen, ist einmalig. In dieser Intensität und Professionalität gibt es das in der Schweiz nicht.»

Wir essen zusammen, spielen Fussball und unterhalten uns in den Pausen über die neusten Videogames
Andreas Reize, Dirigent

Tatsächlich ist es alles andere als selbstverständlich, dass der Schweizer, noch dazu ein Katholik, an die Stelle des Thomaskantors gewählt wurde. Denn selbst wenn Andreas Reize einer der versiertesten Musiker, Chor- und Orchesterleiter der Schweiz ist, wurden bis anhin ausschliesslich deutsche Protestanten ins lutherische Leipzig geholt. Diese konfessionelle Offenheit habe ihn überzeugt, betont Reize. Trotzdem habe er die Gelegenheit genutzt, um zu konvertieren. «Seit Juli bin ich Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde von St. Thomas in Leipzig und zudem Mitglied im Kirchenvorstand.»

Lehrer und Vaterfigur

Seit letztem Herbst ist Andreas Reize nun also einer der Dirigenten des Leipziger Gewandhausorchesters und Chef des Knabenchors. Und das buchstäblich mit Leib und Seele. Die jungen Sänger hier seien nicht anders als die Solothurner Singknaben, die er vorher dirigiert habe, berichtet er. Nur seien hier die Arbeit und das Zusammenleben noch intensiver. «Wir essen zusammen, spielen Fussball und unterhalten uns in den Pausen über die neusten Videogames.» Für die Knaben ist er Lehrer und Vaterfigur zugleich. «Ich bin interessiert an den Jungs, lasse mich gern auf sie ein, weiss aber auch, dass höchste Professionalität im Umgang mit Nähe und Distanz gefordert ist.

Andreas Reize, 46, studierte Kirchenmusik, Orgel, Klavier, Cembalo, Chor- und Orchesterleitung in Bern, Zürich, 
Luzern, Basel und Graz. Von 2007 bis 2021 dirigierte er die Singknaben 
der St. Ursenkathedrale Solothurn. Seit 2011 auch den Gabrielichor Bern und den Zürcher Bach-Chor. Seit September 2021 ist er der 18. Thomaskantor.

Andreas Reize ist nicht nur leidenschaftlicher Pädagoge und Musiker, er ist auch passionierter Sportler und Triathlet. Vom Sport könne man viel fürs Musizieren lernen, sagt er. «Singen auf diesem Level ist Hochleistungssport. Hierzu braucht es überdurchschnittlich viel Körperbewusstsein und Disziplin.»
Er selber trainiert jeden Morgen auf dem Laufband, braucht Bewegung wie die Luft zum Atmen. «Ich bin ein Unruheherd und liebe den Austausch mit Menschen. Daneben brauche ich den Sport, um Kraft zu tanken und mich auf mich selber zu konzentrieren.» Und er braucht seine Familie. «Meine Frau und die Kinder sind das Wichtigste in meinem Leben. Auch wenn sie vielleicht mal etwas zu kurz kommen.» 

Ich bin ein Unruheherd und liebe den Austausch mit Menschen.
Andreas Reize, Dirigent

Aufgewachsen ist Reize in Solothurn. Sein Vater starb, als er noch klein war. Die Mutter war Religionspädagogin, auch sie ist schon lange tot. «In der Musik habe ich Heimat gefunden», sagt er. Die geistlichen Werke, besonders die von Johann Sebastian Bach, eröffneten ihm stets neue Welten. «Bachs Musik ist auch nach bald 300 Jahren noch topaktuell», sagt er mit Begeisterung. Die Schönheit, die Tiefe, die Musikalität. «Und im Klang eines Knabenchors ist das alles besonders deutlich hörbar.»