Im Bahnhof beginnen die Geschichten

Kultur

Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen erzählen in poetischen Bildern Bahnhofsgeschichten aus Zürich und Kairo. Sie handeln von Mönchen, Polizistinnen und der Musik der Bremsen.

Ein Bahnhof ist ein seltsamer Ort. Eine Welt für sich und Sprungbrett zugleich. Niemand will Zeit verlieren. Also wird viel getan, damit sich das Warten nicht anfühlt wie Warten. Es wird getanzt, konsumiert.

Mit «Mahatah» haben Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen einen fantastischen Dokumentarfilm gedreht über zwei solche Welten. Sie liegen in Kairo und Zürich. Es sind die Bahnhöfe, die sie am besten kennen. «Und wir haben sie dank der Menschen, die dafür sorgen, dass sie funktionieren, sie sauber halten, neu kennengelernt», sagt Gysi.

Die heilige Hausordnung

Die Geschichte lebt von ihren Figuren. Da ist etwa Wala Salam. Die Chefin der ägyptischen Putzequipe, die ausschliesslich aus Männern besteht, erzählt, wie sie innerlich den Schnurrbart aufsetzt und die Augenbrauen zusammenzieht, wenn sie ihre Kinder zu Hause zurücklässt und zur Arbeit fährt. 

In Zürich philosophiert Bahnhofspolizistin Marina Esposito darüber, dass sie zwar nicht die Welt verbessern, aber immerhin die Hausordnung durchsetzen könne. «Jeden Tag neu.» Esposito ist die eigentliche Hauptfigur des Films, ohne dass dadurch andere Protagonisten weniger Raum erhielten. «Sie hat uns viele Türen geöffnet», sagt Mohsen. Das Material, das mit ihr gedreht werden konnte, sei «das Rückgrat der Erzählung» gewesen.

Zur Entstehung eines Dokumentarfilms gehört, dass zwar ein Drehbuch besteht, aber während der Arbeit neue Anekdoten und Personen hinzukommen. Ein solcher Glücksfall ist Raimundo Mader. Er sammelt in Zürich den Abfall ein, zeigt auf dem Smartphone stolz das brasilianische Musikvideo, in dem er tanzt, fischt aus der Grünabfuhr ein paar unversehrte Blumen, um sie in den fensterlosen Katakomben des Bahnhofs in eine Vase zu stellen.

Die Flüchtigkeit der Begegnung

Viele Figuren tauchen in der Betriebsamkeit des Bahnhofs auf und sogleich wieder ab. Zuweilen hätte man gern mehr erfahren, etwa vom Schicksal des jungen Mannes, der hinter dem Grill steht und dessen Gesuch um eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung abgelehnt wurde. Oder auch vom tibetischen Mönch, der über die Gehetztheit der Passanten staunt und in der Bahnhofkirche meditiert, während die Seelsorgerin das Unservater spricht. Doch gerade kraft dieser losen Erzählfäden fängt der Film mit dem poetischen Blick des Flaneurs die Flüchtigkeit der Begegnung ein. 

Ohnehin widerstehen Gysi und Mohsen der Versuchung zu erklären. Zwar bildet die Parallelität die Grundlage des Films. Zu fast jeder Figur in Kairo findet sich eine Doppelgängerin in Zürich. Doch statt zu vergleichen und zu werten, erzählt der Film in starken Bildern. Und die Zusammensetzung der Paare wirkt nie konstruiert oder aufgesetzt, sondern sie ergibt sich vielmehr.

Der Stillstand als Notfall

In Zürich ist bereits der Stillstand einer Rolltreppe ein kleiner Notfall, und der Lokomotivführer beklagt den Ausfall der Klimaanlage. In Kairo hofft der Stellwerkleiter derweil, dass Allah die Kata­strophe eines Zugunglücks abwenden möge. Und im Führerstand einer klapprigen Lokomotive fährt die Überzeugung mit, dass Ägypten die besten Lokführer der Welt habe.

Für Gysi sind Bahnhöfe «abgeschlossene Räume, in denen dennoch die ganze Welt präsent ist». Dieses Fernweh, das Echo der Welt ist im Film immer wieder präsent. In der wunderbar eingefangenen Fahrt durch die Vororte von Kairo oder auch nur im Rattern der Wagenräder und dem musikalischen Zischen der Bremsen.

Mahatah. Side Stories from Main Stations. Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen, 2022, 79 Minuten. Kinostart: 15. September