Jüdischer Brückenbauer mit Raffinesse

Judentum

Er setzt sich ein für den Dialog zwischen den Religionen: Michel Bollag, Mitbegründer des Zürcher Lehrhauses. Nun geht der Judentumerklärer in Pension.

Der Zufall legt gleich zu Anfang des Gesprächs die erste biografische Spur zu Michel Bollag: Auf der modernen Couch der Rezeption des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog (ZIID) sitzt Annemarie Vogt. Die Tochter des bekannten Flüchtlingspfarrers hatte vor Jahren den Kontakt zu einer Mäzenin hergestellt, die ihr grosses Haus schliesslich der «Stiftung für Kirche und Judentum» vermachte. Die Liegenschaft wurde zum Domizil des Zürcher Lehrhauses, an dem Michel Bollag über zwei Jahrzehnte lang mit Witz und Raffinesse Christinnen und Christen Thora-Auslegungen, aber auch Althebräisch, nahebrachte.

Mit dem 1994 gegründeten Lehrhaus brach für den christlich-jüdischen Dialog eine neue Epoche an. «Hier wurde nicht akademisch über das Judentum gesprochen, sondern miteinander über Christen- und Judentum diskutiert», so Bollag. Das war nicht selbstverständlich, wie die
Geschichte der reformierten «Stiftung fürKirche und Judentum» zeigt. Denn bei der Gründung der Stiftung 1830 ging es mehr um Judenmission als um judaistische Studien.

Schwieriger Dialog

Missionieren war bei der Gründung des Lehrhauses längst kein Thema mehr. Weit verbreitet war inzwischen dafür die Erkenntnis, dass ohne ein profundes Wissen über das Judentum keine christliche Theologie betrieben werden kann.

Haben aber auch Juden das Haus besucht? Bollag nimmt seine Brille ab. Seine Stirn legt sich in Falten, seinekugelrunden Augen erscheinen nochetwas grösser, bis er schliesslich zueinem kleinen Parforceritt durch die jüdische Geschichte ansetzt. Erst seien die Juden in Europa diskriminiert undvon Pogromen heimgesucht worden, dann kam Aufklärung und Judenemanzipation, auf die rasch die nationalistische und rassistische Ablehnung folgte, die in den Massenmord von Millionen von Juden mündete. «Danach die Wiederauferstehung als souveränes Volk mit der Staatsgründung Israels. Und jetzt kommen die Kirchen und sagen: Wir sind eure Brüder!» Mit dieser historischen Bürde, so Bollag, sei die Mehrheit der Juden bis heute noch nicht zurechtgekommen.

Zwischen Shoa und Schweiz

Und wie war dies für den religiösen Brückenbauer Bollag selbst? Ist seine Familiengeschichte von den Schrecknissen der Shoa verschont geblieben? Väterlicherseits hat er eine Schweizer Beheimatung, seine Mutter aber ist als deutsche Jüdin über Frankreich in die Schweiz geflüchtet.Sein deutscher Grossvater hat Auschwitz nicht überlebt. «Meine verstorbene Mutter hat deshalb mit mir immer Französisch gesprochen – ohne deutschen Akzent.»

Bollag schrieb später seine Lizenziatsarbeit über die Identitätsproblemejunger Schweizer Juden. Viele führtenwie er selbst einen «Dialog mit verschiedenen Identitätsbestandteilen.» Da treffen die in der Schweiz Beheimateten auf helvetischen Antisemitismus. Immer wieder taucht die Frage auf: Ist nicht Israel meine wahre Heimat?

Bollag selbst hat es nach der Matura in Genf nach Israel gezogen. Dort hat er eine Jeshiwa, eine Talmudschule mit nationalorthodoxer Ausrichtung, besucht.

Zurück in Zürich meldeten sich andere «Identitätsbestandteile» zurück. Bollag studierte Pädagogik, übernahm die Leitung der Religionsschule der Israelitischen Cultusgemeinde, führte gleichzeitig christliche Besuchsgruppen durch die Synagoge in der Löwenstrasse. Der Pädagoge wurde zu so etwas wie dem Zürcher Judentum-Erklärer. Im Rahmen dieser Tätigkeit begegnete er dem reformierten Pfarrer Martin Kunz. Da trafen sich Seelenverwandte. Gemeinsam lancierten sie die Idee vom Lehrhaus.

Islam: Viel Gemeinsames

Nun geht der Mitbegründer Bollag. Zuvor hatte er mitgeholfen, dass von 2004 an Rifa’at Lenzin als Vertreterin des Islam im Lehrhaus unterrichtete. Im neuen Domizil sollen die drei abrahamitischen Religionen gleichberechtigt eine Stätte des theologischen Kennenlernens und der religionspolitischen Diskus­sionen finden. Bollag macht keinen Hehl daraus: «Wenn die nahöstlichen Konflikte nicht den Blick verstellen würden, könnten Juden und Muslime entdecken, dass sie mehr Gemeinsamkeiten teilen als Juden und Christen.»

Von Bollag 
zu Böckler

 

Annette M. Böckler übernimmt vom 1. Mai an die Nachfolge von Michel Bollag als Fachleiterin für Judentum im Zürcher Institut für interreligiösen Dialog ZIID. Böckler ist derzeit Dozentin am Leo Baeck College. Die studierte evangelische Theologin konvertierte 2001 zum Judentum. Michel Bollag bleibt dem Institut als Dozent und Berater erhalten.