Recherche 30. Dezember 2022, von Katharina Kilchenmann

Widerstand auf einem schmalen Grat

Klimadebatte

Aktivisten blockieren Strassen und kleben sich an Kunstwerke. Ist diese Art des zivilen Widerstands nötig, legitim und zielfüh­rend? Und aus christlicher Sicht richtig?

Es ist ein Dienstagmorgen im Oktober. Julia Steinberger, Professorin für Ökologische Ökonomik und Co-Direktorin des Center for Climate Impact and Action (Climact) der EPF Lausanne, sitzt nicht wie üblich in ihrem Büro an der Universität. Sondern mitten auf einer vielbefahrenen Strasse in Bern, angeklebt am Asphalt. Der Verkehr ist für 30 Minuten blockiert. So lange, bis Steinberger und andere Aktivisten von der Polizei unter erheblichem Aufwand von der Strasse getragen und in Polizeigewahrsam genommen werden.

Für mich ist es eine moralische Pflicht, mich der Klimabewegung anzuschliessen.
Julia Steinberger, Professorin an der Uni Lausanne

«Für mich ist es eine moralische Pflicht, mich der Klimabewegung anzuschliessen», erklärt Julia Steinberger auf Anfrage. Und sie sei schockiert über die Tatsache, dass sie nach dieser zivilen Widerstandsaktion sehr viel mehr Interviewanfragen bekommen habe als nach der Veröffentlichung des Berichts zur globalen Erderwärmung, bei dem sie als Hauptautorin mitgewirkt hatte. «Offenbar weckt das Sitzen auf einer Strasse mehr Interesse als ein monumentaler Bericht, von Spitzenwissenschaftlern verfasst und voller Handlungsansätze und Lösungen.»

Wirkungsvolle Proteste

Bilder von Strassenblockaden oder Aktionen, bei denen sich Menschen an Bilderrahmen von Kunstwerken kleben, werden hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt. Zivile Widerstandsbewegungen wie Renovate Switzerland erreichen mit ihren Aktionen sehr viel Aufmerksamkeit für ihr Anliegen – nämlich, die Regierung dazu zu bringen, dringend notwendige Massnahmen gegen die Klimakrise zu ergreifen.

Doch nicht alle goutieren diese Art des Widerstands. Politikerinnen sprechen von «Klimaterroristen», die «knallhart» bestraft werden sollten. Kunstliebhaber sorgen sich um die malträtierten Werke. Und Autofahrerinnen finden, selbst wenn sie die Grundanliegen der Klimaaktivisten teilten, überschreite eine Strassenblockade die Grenze des Zumutbaren.

Nicht jedes Mittel ist heilig

Viele Menschen teilten die Anliegen und Ziele der Aktivistinnen, ist Stephan Jütte, Leiter des Bereichs Theologie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), überzeugt. Aber über den Weg zur Lösung gebe es viele unterschiedliche Ansichten. «Der gute Zweck heiligt nicht jedes Mittel», sagt der Theologe. Er könne den Widerstand bestenfalls plausibilisieren. «Wenn der Zweck jedes Mittel rechtfertigen würde, wären wir in einem permanenten politischen Ausnahmezustand. Unser Leben in einem liberalen demokratischen Rechtsstaat würde dadurch arg strapaziert.»

Trotz allem lehnt Stephan Jütte den zivilen Ungehorsam nicht grundsätzlich ab. «Hier engagieren sich Menschen, die wirklich Angst haben. Die Panik ist ihnen zum Teil ins Gesicht geschrieben. Das nehmen wir von kirchlicher Seite sehr ernst – politisch, aber auch seelsorgerlich», betont er.

Knut Cordsen: Die Weltverbesserer. Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft? Aufbau Verlag 2022

Wer Tomatensuppe auf Vincent van Goghs «Sonnenblumen» wirft, um damit Klimaziele durchzusetzen, erreicht ein grosses Publikum, weiss auch der deutsche Journalist Knut Cordsen. Bloss werde danach vor allem über die Aktion gesprochen anstatt über das Klima.

Blinde Untertsützung durch die Kirche

Der Publizist hat eben ein Buch über 100 Jahre Aktivismus herausgegeben. Er meint, Aktivismus sei zwar wichtig, aber oft ziemlich selbstgerecht. Auch unter den Klimaaktivisten gebe es viele, die überzeugt seien, sie allein wüssten, welcher Weg der richtige sei. «Der Diskurs ist regelrecht religiös aufgeladen», so Cordsen. «Die Klimaschützenden beschwören die Apokalypse herauf und bekehren jene, die ohnehin schon ein schlechtes Gewissen haben.»

Er kritisiert auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die sich hinter die Anliegen der «Letzten Generation» stelle und die Aktivisten damit «heiligspreche». «Aktivistinnen werden vom Kirchenparlament zu Erlöserfiguren hochstilisiert. Damit ist der Fokus vor allem auf den Personen und nicht, was dringend nötig wäre, auf klimagerechter Politik», findet Cordsen.

Es braucht Öffentlichkeit

Uniprofessorin Julia Steinberger sieht dies anders. Es brauche die Aufmerksamkeit der Medien, der Öffentlichkeit und der Politik, ohne sie sei Handeln nicht möglich. «Gewaltfreier ziviler Widerstand wird nicht leichtfertig praktiziert, sondern nur, wenn andere, weitaus weniger unangenehme Mittel versagt haben.» Jedenfalls werde sie sich nach wie vor als Aktivistin für das grundlegende Recht auf Leben und eine stabile und gesunde Umwelt einsetzen.