Die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) unterstützt das Bündnis «United4Rescue», das ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schickt. Welche Reaktionen haben Sie auf Ihre Stellungnahme erhalten?
Gottfried Locher: Viele, die überwiegende Mehrheit war positiv. Die EKS sieht in der Seenotrettung eine humanitäre Pflicht. Gleichzeitig steht sie zum Asylrecht, das impliziert, dass nicht schutzbedürftige Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren müssen. Aber alle Migranten verdienen ein faires Asylverfahren. Offensichtlich ist es uns gelungen, die Verpflichtung, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, vom Dilemma der Migrationspolitik zu trennen.
Welches Dilemma?
Die Integrationskraft der Zielstaaten ist begrenzt. Und Migration ist zu einem riesigen Geschäft geworden. Die Befürchtung, Schlepperbanden würden darauf spekulieren, dass die seeuntauglichen Boote kentern und die Flüchtlinge von zivilen Rettungsschiffen nach Europa gebracht werden, nehme ich ernst.
Eine 2017 veröffentlichte Studie konnte keinen Zusammenhang zwischen Hilfsangebot und Migrationsbewegung feststellen. Damals hatte Italien die Operation «Mare Nostrum» zur staatlichen Seenotrettung bereits eingestellt. Seither setzt die Europäische Union auf ihre Grenzschutzagentur Frontex.
Ich bin kein Experte. Aber ich will die Befürchtung, dass es diesen Effekt gibt, nicht einfach vom Tisch wischen. Kriminelle Schlepperbanden agieren derart skrupellos, dass ich ihnen durchaus zutraue, alle Geschäftsmöglichkeiten zu nutzen. Jede Lösung schafft neue Probleme.
Also nimmt die EKS in Kauf, dass sie Schlepperbanden in die Hände spielt?
Wenn es um die Seenotrettung geht, kann niemand ein Dilemma geltend machen. Menschen, die zu ertrinken drohen, müssen wir retten.
Mit ihrem rein symbolischen Beitrag von einigen tausend Franken an das Rettungsschiff rettet die EKS wohl kaum Menschenleben.
Das ist richtig. Doch wir setzen ein Zeichen mit unserer Unterstützung. Die EKS lebt von den Geldern, die ihr die Mitgliedkirchen anvertrauen. Deshalb würde der Rat niemals an der Synode vorbei grosse Beträge freigeben.
Und wenn die Synode ein stärkeres Engagement wünscht?
Einen entsprechenden Auftrag der Synode würde der Rat selbstverständlich umsetzen.
Zur Mitgliedschaft beim Seenot-Bündnis konnte sich die EKS nicht durchringen, obwohl viele deutsche Diakoniewerke und evangelische Kirchgemeinden dabei sind. Warum?
Die EKS tritt grundsächlich keinen Vereinen und Initiativkomitees bei.
In der Sonntagsallianz hat die EKS aber kein Problem damit, an der Seite von Gewerkschaften und linken Parteien gegen die Sonntagsarbeit zu kämpfen.
Wir entscheiden von Fall zu Fall, was die richtigen Massnahmen sind. Hier wollen wir uns wie gesagt auf die konkreten Schritte zur Seenotrettung konzentrieren.
Kann es gelingen, in der Kirche anders über Migrationspolitik zu diskutieren und die politischen Fronten aufzuweichen?
Ich weiss es nicht. In Migrationsfragen spielt die politische Einstellung eine zentrale Rolle, auch innerhalb der Kirche. Dass sich immer schuldig macht, wer handelt, ist jedoch eine Erkenntnis, von der viele biblische Geschichten erzählen. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich mich mit meiner Haltung zwingend in Widersprüche und neue Problemstellungen verstricke, vielleicht in genauso viele wie mein Gegenüber, das anderer Meinung ist, dann kann ich vielleicht eine andere, weniger von moralischen Vorhaltungen geprägte Debatte führen. Gelingt es, in der Kirche auf dieser Basis über Migrationspolitik zu diskutieren, haben wir viel erreicht.