Recherche 08. September 2016, von Felix Reich

«Die Angst ist unser grösster Feind»

Intergration

Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP) spricht im Interview mit «reformiert.» über Bettag, Burka, Reformation und die Anerkennung islamischer Gemeinschaften.

Am Bettag halten Sie im Grossmünstergottesdienst eine Rede. Was ist für Sie anders, wenn Sie in einem Kirchenraum sprechen?

Jacqueline Fehr: Eine Kirche ist ein spezieller Ort. Der Kirchenraum steht für mich für Dialog und Reflexion. Zugleich wurden in Kirchen auch schon Spitäler eingerichtet oder Verfolgte fanden Schutz. Persönlich halte ich mich gerne in Kirchen auf. Ich verbinde damit Momente der Einkehr und Ruhe. Das Gefühl habe ich auch, wenn ich Moscheen besuche.

Der Kanton beteiligt sich am Reformationsjubiläum. Sollen wir gedenken oder feiern?

Wir sollten feiern und nachdenken. Die Handschrift der Reformation ist in unserem Alltag viel deutlicher erkennbar, als wir glauben. Das sollten wir feiern. Vielen Menschen werden die Augen aufgehen. Auch ich habe zahlreiche Aha-Erlebnisse, seit ich mich mit dem Jubiläum befasse. Ganz wichtig ist für mich, dass in der Reformation dogmatische, autoritäre Vorgaben ersetzt wurden durch eine Glaubensrichtung, die Fragen stellt. Darüber gilt es nachzudenken, auch in Bezug auf andere Religionen.

Die Reformation als Vorbild für den Islam?

Wie die christlichen Kirchen in Afrika anders sind als in Zürich, wird sich auch der Islam bei uns zu einem europäischen Islam entwickeln. Hier können wir viel aus unserer Kirchengeschichte lernen. Ich denke an die historisch-kritische Auslegung religiöser Texte, wie sie die Reformation ermöglichte. Aber auch an die Erfahrung der Katholiken, deren Anerkennung einst auf Widerstand stiess. Ihre demokratisch legitimierte Körperschaft kann Vorbild sein für muslimische Gemeinden oder orthodoxe Kirchen.

Sie bringen die Anerkennung muslimischer Gemeinden ins Spiel. 2003 hatte das Anerkennungsgesetz an der Urne keine Chance. Auch heute finden Sie dafür keine Mehrheit.

Das letzte Wort bleibt beim Volk. Aber es ist offensichtlich, dass unsere Gesellschaft viele Fragen zum Nebeneinander der Religionen hat. In dieser Lage muss der Staat Vorschläge machen. Ich orientiere mich an den Kriterien, die für die Anerkennung der jüdischen Gemeinschaften galten: demokratische Organisation, Anerkennung der Grundwerte der Schweizer Rechtsordnung, finanziel-le Transparenz. Die Anerkennung ist für mich darum ein Ziel am Horizont, weil anerkannte Religionsgemeinschaften Verantwortung übernehmen können. Das ist in den 1960er bei der Zuwanderung aus Italien und Spanien mit der katholischen Kirche gut gelungen.

Ihre Forderung wurde schnell aus den Sommerschlagzeilen verdrängt: Regierungspräsident Mario Fehr verlangte ein Burkaverbot.

Inzwischen finde ich die Qualität der Debatte beachtlich, weil sie über die Frage hinausgeht, was ein linker Politiker fordern darf und was nicht. Es geht um die Frage, was wir als Gesellschaft zu bieten haben. Diese Diskussion ist wichtig.

Und was haben wir zu bieten?

Freiheit, Rechtsstaat, Gleichstellung. Wir sollten dieses Angebot nicht verlassen, nur weil sich ein paar Frauen verhüllen. Beantworten wir ein Kleidergebot mit einem Verbot, bewegen wir uns in der Logik jener Gesellschaften, deren Werte wir ablehnen. Ich bin überzeugt, dass wir den aktuellen Integrationsprozess in Freiheit bewältigen können. Als die ersten Katholiken nach Zürich kamen, später die Italiener, Tamilen, Afrikaner, die ersten Kopftuch tragenden Muslima – stets gab es Stimmen, die sagten: Das geht nicht. Es hat trotzdem funktioniert.

Sie sagen also wie Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wir schaffen das?

Ja. Bleiben wir unseren Werten treu, schaffen wir das. Die Forderung nach einem Burkaverbot sehe ich als ein Zeichen, dass wir an der Beständigkeit unserer eigenen Werte zweifeln. Wir sind uns plötzlich nicht mehr sicher, ob Freiheit und Demokratie stärker sind als Zwang und Verbote. Diese Angst ist unser grösster Gegner. Ich bin überzeugt, dass der Freiheitswille aller Menschen so stark ist, dass sich unsere Werte durchsetzen.

Jacqueline Fehr (53)

Im April 2015 wurde die Winterthurerin in den Regierungsrat gewählt. Sie leitet die Direktion der Justiz und des Innern und ist damit für das Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften zuständig. Von 1998 bis 2015 poli­tisierte Fehr für die SP im Nationalrat. Am 18. September um 10 Uhr ist Jacqueline Fehr zu Gast im von Pfarrer Martin Rüsch gestalteten Gottesdienst im Grossmünster.