Recherche 16. Mai 2019, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Die Kirche soll eine Herberge sein»

Kirchenentwicklung

Theologieprofessor Thomas Schlag erklärt, warum die Reformierten ihre Mitglieder heute viel mehr einbeziehen als früher.

Die Gemeinde Hirzenbach will Beteiligungskirche sein. Was ist das?
Thomas Schlag: Beteiligungskirche ist ein wichtiger Grundbegriff für die kirchliche Zukunft. Gemeint ist, dass sich die Mitglieder verantwortlich am Gemeindeleben beteiligen. Beteiligungskirche lebt von Menschen, die ihre Potenziale einbringen und ihre Visionen von Kirche und Christentum umsetzen.

Wo liegt der Gewinn?
Wenn Menschen sich entfalten, werden Gemeinden vielfältiger und bunter. Früher verstand sich die reformierte Kirche eher als Versorgungs- und Dienstleistungskirche. Sie ging davon aus, dass die Menschen in die Kirche kommen, um zu erfahren, wer sie sind. Heute ist es tendendziell umgekehrt. Kirche muss Menschen aufsuchen, um sie zu erreichen und zu verstehen, worin sie ihren Sinn finden. In der persönlichen Begegnung zeigt sich dann, ob die Botschaft des Evange­liums für das Leben relevant ist, also Hoffnung macht, tröstet und Gemeinschaft stiftet.

In Hirzenbach engagieren sich viele Freiwillige sehr stark. Kann die Volkskirche, die für engagierte wie distanzierte Mitglieder da ist, auch Beteiligungskirche sein? 
Sie kann nicht nur, sondern sie muss für alle Menschen offen sein, wenn sie zukunftsfähig sein will. Unsere Forschung zeigt klar, dass sich die Kirchgemeinden längst vom reinen Dienstleistungsmuster verabschiedet haben. Sie erproben viele kreative Beteiligungsformen.

Welche sind gelungene Beispiele?
Wenn Gruppen der Gemeinde, aber auch Tauf- oder Konfirmandeneltern Gottesdienste selbstverantwortlich mitvorbereiten. Beteiligungskirche findet auch dort statt, wo Jugendarbeit als unverzichtbarer Teil der Gemeinde kultiviert wird. Spannend wird es, wenn man Distanzierte mit ihren Potenzialen integriert: die Journalistin, die für
die Öffentlichkeitsarbeit berät, der Künstler, mit dem neue liturgische Darstellungsformen erprobt werden, der Landschaftsgärtner mit Blick für ästhetische Gestaltung.

Also sind Kirchenmitglieder, die sich nicht andauernd aktiv engagieren wollen, nicht weniger wert.
Genau. Ich mag das Bild von der Kirche als Herberge. Menschen dürfen kommen, wenn und wann sie wollen, sich aufhalten, und wieder gehen. Kirche muss leicht zugänglich sein, aber auch Distanz erlauben, was sich idealerweise in der Architektur kirchlicher Gebäude zeigt. Übrigens wechseln viele Reformierte ständig zwischen Nähe und Distanz zur Kirche, je nach Lebensphase und Berufssituation.

Was lässt sich vom Gemeindemodell der Hirzenbacher lernen?
Die klassischen Gemeinden müssen sondieren, ob sie das Poten­zial möglicher Beteiligungsformen bereits  ausgeschöpft haben. Ich weiss nicht, ob Hirzenbach die Erfahrungen mit anderen Kirchgemeinden teilt. Im Sinne der Einheit der reformierten Kirche fände ich das wichtig. Eine Beteiligungskirche lebt davon, dass Menschen mit ganz verschiedenen Frömmigkeitsprofilen zusammenkommen und das Evangelium erfahren.

Thomas Schlag, 53

Der Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich ist Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE). Dieses befasst sich mit Gemeindeaufbau und Kirchenentwicklung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis.