«Es liest sich wie ein Kriminalroman von Dürrenmatt»

Rezension

Das neu erschienene Buch «Das Markusevangelium heute lesen» will anregen, den Bibeltext selber zu entdecken.

Der Theologe Klaus Bäumlin nimmt Leserin und Leser in 167 Seiten auf eine Reise durch das Markusevangelium. Das Buch bietet keine fortlaufende Auslegung, sondern will Leser und Leserinnen vielmehr anleiten, das Markusevangelium selber zu lesen und zu entdecken, wie der Autor im Vorwort festhält.

Sorgfältiger und bewusster Umgang der Sprache

Dies gelingt Klaus Bäumlin dank seiner klaren Sprache, seiner Fähigkeit, Wissen zu vermitteln und dem strukturierten Aufbau des Buches. Der Autor bettet das Markusevangelium ein: Er vermittelt die nötigen Kenntnisse über die Synopse, Schauplätze wie Galiläa, Jerusalem, Rom, die Berge und die Wüste, über Personen wie Johannes der Täufer, die Frauen, die Jünger, die Pharisäer oder Pontius Pilatus. Klaus Bäumlin gibt Nachhilfeunterricht, um das Markusevangelium besser einordnen zu können und nutzt dazu kurz verfasste Exkurse innerhalb der Kapitel.

Klaus Bäumlin bezieht sich in seinen Ausführungen auf eine breit abgestützte Sekundärliteratur. Immer wieder führt er seine Erklärungen auf die hebräische oder griechische Bibel zurück. Überhaupt fällt auf, wie nahe Bäumlin sich am Text des Markusevangeliums hält. Bäumlins Freude am sorgfältigen und bewussten Umgang des Markus mit der Sprache kommt immer wieder zum Vorschein.  So achtet der Theologe auf die «kleinen Worte, die Markus in seinem Evangelium verwendet» und widmet beispielsweise mehrere Abschnitte dem Wort «Geh!», das unter anderem in Markus 10, 21 vorkommt: «Eines fehlt dir. Geh, verkaufe, was du hast und gib es den Armen.»

Brücke zur Gegenwart schlagen

«Immer wieder ist zu beobachten, dass Markus bewusst und genau mit den Worten umgeht», schreibt Bäumlin. «Manchmal muss man es geradezu listig nennen.» Ein weiteres Merkmal von Bäumlin’s Schrift ist sein Gegenwartsbezug: Mehrmals im Buch schlägt Bäumlin die Brücke in die Gegenwart. Lehrt Leserin und Leser, woher heutige christliche Traditionen stammen, wie etwa der Hahn auf dem Kirchenturm – um nur ein Beispiel zu nennen.

Bäumlin widmet ein ganzes Kapitel der Passionsgeschichte. «Das Markusevangelium ist ein Drama, und die Kapitel 14 und 15 bilden in diesem Drama den Ziel- und Höhepunkt», schreib Bäumlin. «Was von Mittwochabend in Betanien bis zur Grablegung Jesu am Freitagabend geschieht, ist derart dramatisch erzählt, dass es sich liest wie ein Kriminalroman von Dürrenmatt.»

Vom beklemmenden Schluss, der Leserinnen und Leser miteinbezieht

Das Markusevangelium könnte man als Drama auf der Bühne inszenieren, findet der pensionierte Pfarrer. Der Text lese sich wie ein Drehbuch: «Bevor der Vorhang fällt, sieht der Zuschauer, wie der Stein vor das Grab Jesu gerollt wird, er sieht, wie Josef von Arimatäa nach Hause geht, und er sieht im Hintergrund die beiden sehenden Frauen.

Es ist ein atemberaubender, ein beklemmender Schluss, beklemmend wie so viele Menschenschicksale. Und doch ist es, wie wenn die beiden Frauen mit ihrem Sehen einen kleinen Spalt offen hielten. Der Vorhand ist zwar zu, und doch spürt der Zuschauer, die Leserin: Da kommt noch etwas, etwas mit dem niemand gerechnet hat.»

Geradezu bestürzend findet Klaus Bäumlin der letzte Vers des Markusevangeliums. In Vers 16, 8 heisst es von den Frauen vor dem leeren Grab: «Da gingen sie hinaus und flohen weg vom Grab, denn sie waren starr vor Angst und Entsetzen. Und sie sagten niemanden etwas denn sie fürchteten sich.» 

Da Leser und Abschreibende des Markusevangeliums einen erschreckenden und verstummenden Schluss unpassend fanden, wurde ein sogenannter unechter Schluss aus Elementen aus anderen Evangelien geschrieben in Markus 16,9-20. Dies ermöglicht gemäss Bäumlin eine Erfolgsgeschichte. 

Zumutung statt Erfolgsgeschichte

Nicht so aber der «echte Schluss». Bäumlin interpretiert diesen Schluss als eine Zumutung an die Lesenden: «Das, denke ich, ist seine Pointe. Auch in diesem Punkt erweist sich das Markusevangelium als grosse, geniale Literatur, die nicht mit einem Happy End schliesst, das alle beruhigt entlässt, sondern mit einer Zumutung.»

Dieser offene Schluss überträgt Bäumlin auf die Leserinnen und Leser des Evangeliums, diese würden genau an der Stelle und in der Situation der drei Frauen an Jesus Grab sein: «Sie sind jetzt gefragt, auf sie kommt es jetzt an. Der offene Schluss des Markusevangeliums ist eine Frage an die Lesenden: Werdet ihr dabei sein? Werdet ihr euch hineinnehmen, hineinverwickeln lassen in die Geschichte des Jesus von Nazaret? Werdet ihr sie weitererzählen?»

Und so gelingt es Klaus Bäumlin, nicht nur die Lektüre durch das Markusevangelium anzuleiten, sondern auch das Nachdenken über den Text und seinen Bezug zur Gegenwart anzuregen.

Klaus Bäumlin: Das Markusevangelium heute lesen. Theologischer Verlag Zürich 2019, 167 Seiten

Klaus Bäumlin, 81

Der Theologe war von 1972 bis 1983 Redaktor der Zeitschrift Reformatio und ist Mitherausgeber von Kurt Martis Kolumnenwerk «Notizen und Details 1964-2007». Als Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern galt er als Pionier der gleichgeschlechtlichen Ehe, weil er 1995 eine Segensfeier für die Partnerschaft zweier Männer durchführte. 2018 verlieh ihm die Universität Bern die Ehrendoktorwürde.