Recherche 19. März 2019, von Eva Mell

«Es sind keine Tränen der Bitterkeit mehr»

Verdingkinder

Herbert Hunziker war ein Heim- und Verdingbub. In der reformierten Kirche Laufenburg erzählte er seine Geschichte.

Ein paar Tränen glänzen den ganzen Abend lang auf Herbert Hunzikers Gesicht. Still liegen sie da, stören ihn beim Erzählen nicht. Er wischt sie erst weg, wenn neue kommen. Zum ersten Mal ist das der Fall, als der 64-Jährige erzählt, wie er sich im Kindergartenalter mit drei oder vier anderen Kindern ein Gitterbett teilen musste. «Wir konnten unsere Beine nicht ausstrecken und sind alle Bettnässer geworden», sagt er. «Dann haben sie mir einen metallenen Apparat ins Bett gelegt. Wenn ich ins Bett gemacht habe, gab es elektrische Schläge.» Die Erinnerung durchrüttelt ihn, Tränen drängen aus seinen Augen. Schnell wischt er so viele weg, dass wieder nur ein paar auf seinen Wangen liegen bleiben.

Tiefe Spuren der Vergangenheit
Herbert Hunziker ist als Heim- und Verdingbub aufgewachsen. Als er drei Jahre alt war liess sein Vater die sieben Kinder mitsamt der Mutter im Tessin zurück, um in Zürich zu arbeiten. Als er fünf Jahre alt war: die Scheidung der Eltern. Zuerst haben die Behörden seine älteste Schwester mitgenommen, später die restlichen sechs Kinder. Was folgt ist das, was Sozialdiakonin Christine Toscano aus der reformierten Kirchengemeinde Laufenburg ein «trauriges Kapitel in der Schweizer Geschichte und Gesellschaft» nennt: Misshandlung im Kinderheim, Hunger, harte Arbeit im Erziehungsheim, eine Lehre, die er sich selbst nicht ausgesucht hätte, Militärdienst, der verglichen mit den Qualen aus der Kindheit ein Vergnügen war.
Christine Toscano hat Herbert Hunziker zu einem Vortrag über sein Leben zu den Reformierten nach Laufenburg eingeladen, weil sie bei Seelsorge- und Geburtstagsbesuchen schon mehrmals auf dieses Thema gestossen ist und erfahren hat, welch tiefe Spuren eine solche Vergangenheit hinterlässt. Herbert Hunziker hat zugesagt, weil er andere Betroffene ermutigen will. Und weil er vermitteln will: «Sagt niemals einem Kind, dass es nichts wert ist. Das ist das Schlimmste.» Er wischt ein weiteres Mal Tränen aus seinem Gesicht, als er erzählt: «Ich hatte nie jemanden, der gesagt hat, komm in meine Arme, ich habe dich gern.»
Die Liebe hat er als junger Mann doch noch gefunden und zwei Töchter bekommen. Sein fester Glaube an Gott gibt ihm Halt und die Kraft zu vergeben.

Dokumentierte Qualen
Neben ihm sitzt als Moderatorin seines Vortrags Ruth Bai-Pfeifer, Seelsorgerin aus der Freien Evangelischen Gemeinde im Prisma Rapperswil-Jona, zu der er gehört. Sie hat ihm geholfen, die Formulare auszufüllen, um eine Entschädigung aus dem Soforthilfefonds des Bundes zu erhalten. «Erst seit er die Anträge ausgefüllt hat, spricht er überhaupt über das Thema», sagt sie. An diesem Abend zum zweiten Mal öffentlich.
Wer Geld aus dem Fonds erhalten möchte, muss die erlittenen Qualen dokumentieren. Für Herbert Hunziker ist es nicht verwunderlich, dass die meisten ehemaligen Verdingkinder das nicht tun.
Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund hat einen finanziellen Beitrag zum Soforthilfefonds geleistet. Denn die Kirchen waren ebenfalls Teil des Systems. Es gab reformierte Heime und mit hoher Wahrscheinlichkeit waren oft auch Ortspfarrer in Entscheide über Fremdplatzierungen involviert.

Schwer zu erreichen
Als das Thema in Medien und Politik aufgearbeitet wurde, wollte Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg auch die Rolle der Aargauer Reformierten durchleuchten. Seine Hoffnung war, dass sich Betroffene melden und die Kirchgemeinden dann gezielt Archivbestände aufarbeiten könnten. Doch trotz verschiedener Aufrufe zum Beispiel in Newslettern und Mitgliederzeitschriften: «Niemand hat sich gemeldet.»
Wer Herbert Hunziker reden hört, merkt schnell, dass Aufrufe wohl nicht die wirksamste Methode sind, um ehemalige Verdingkinder zu erreichen. «Wir brauchen Begegnungen, vertrauensvolle Beziehungen und Gespräche», sagt Christine Toscano. Deshalb wollte sie nicht abwarten, bis Betroffene handeln, sondern hat den Vortrag geplant, um den Dialog über das Thema ganz allgemein zu fördern.
Auf Herbert Hunzikers Wangen glänzt es. Zum Schluss betont er: «Mir kommen beim Erzählen immer wieder die Tränen. Aber es sind keine Tränen der Bitterkeit mehr.»