Christliche Organisationen wie Kirche in Not oder Open Doors beklagen in ihren Berichten, dass die Religionsfreiheit immer stärker unter Druck gerät. Teilen Sie als Sonderberichterstatter der UNO diese Einschätzung?
Heiner Bielefeldt: Zweifellos hat sich die Lage im Mittleren Osten in den letzten Jahren nochmals dramatisch verschlechtert. Die öffentlich inszenierten Grausamkeiten von Isis bedeuten eine neue Qualität der Verfolgung, unter der Angehörige religiöser Minderheiten, aber auch der Mehrheit leiden. Die Christen sind nur eine der verfolgten Gruppen.
Verletzen vor allem die Länder mit dem Islam als Staatsreligion die Religionsfreiheit?
Richtig ist, dass viele islamisch geprägte Staaten die Abkehr vom Islam nicht akzeptieren und teils mit dem Strafrecht oder mit administrativen Schikanen darauf reagieren. Wir sollten uns jedoch vor Pauschalierungen hüten. Verletzungen der Religionsfreiheit finden wir auch in mehrheitlich buddhistischen Ländern wie etwa Sri Lanka, in Indien im Zuge des wachsenden Hindu-Nationalismus oder im orthodoxen Russland. Und es gibt islamische Gesellschaften wie in Senegal oder Ghana, wo der Wechsel vom Islam zum Christentum meist kein Problem ist.
In Ägypten kämpften Muslime und Christen gemeinsam gegen die Diktatur. Die Revolution scheiterte. Ist die Trennung von Staat und Religion Voraussetzung für Religionsfreiheit?
Wir müssen aufpassen: Der arabische Frühling war eine Realität. Aber die Hoffnungen sind zerschellt. Der Aufstand war der Versuch, aus dem Dualismus Polizeistaat versus islamistisches Regime auszubrechen. Die Sehnsucht nach einem solchen dritten Weg ist geblieben.
Staat und Religion müssen nicht getrennt sein, um Religionsfreiheit zu garantieren?
Doch. Nur ist der Begriff missverständlich. Russland hat eine säkulare Verfassung. Doch Präsident Putin pflegt eine intime Kooperation mit der orthodoxen Kirche, was die Religionsfreiheit gefährdet. In England ist das Christentum formal Staatsreligion, real ist der Pluralismus trotzdem viel grösser als in Russland. Religion und Staat müssen funktional getrennt sein, denn der Staat darf nicht als Exekutivorgan einer Religion auftreten. Er sollte vielmehr einen offenen Raum definieren, in dem sich die Pluralität der Religionen entfalten kann. Das bedeutet eben gerade nicht, dass die Religion ins Private verdrängt wird.
Hätten es die Menschenrechte eigentlich leichter ohne die Religionen?
Nein. Es gibt viele religiös geprägte Organisationen, die sich glaubwürdig für die Menschenrechte einsetzen. Religionen werden stets von Menschen interpretiert – manchmal weitherzig, manchmal aber auch sehr engherzig.
Aber was zählt nun mehr: das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht der Eltern auf die Beschneidung ihres Sohnes als Teil ihrer religiösen Praxis?
Ich bin der Meinung, dass der Staat zwar Standards für Hygiene oder für Schmerztherapien festlegen kann, die Beschneidung unter diesen Voraussetzungen aber zulassen muss. Ein Verbot hätte eine fatale Signalwirkung. Die Konsequenzen wären kaum auszudenken.
Sie sind katholischer Theologe. Gewichten Sie in solchen Fragen den Wert religiöser Rituale auch deshalb höher?
Religionsfreiheit ist ein säkulares Menschenrecht, für das man eintreten kann, ohne selbst religiös zu sein. Doch es hilft schon, wenn man Verständnis hat für die existenzielle Bedeutung des Religiösen für viele Menschen. Man kann leichter nachvollziehen, was auf dem Spiel steht.
Menschenrechtsverletzungen sind weltweit trauriger Alltag. Ist es zuweilen frustrierend, sich für die Menschenrechte einzusetzen?
Im Gegenteil. Ich fühle mich bereichert durch Begegnungen mit eindrucksvollen Menschen, die sich für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen einsetzen. Es gibt viel mehr Nelson Mandelas und Mutter Teresas in der Welt, als wir denken.
Und woher nehmen Sie die Zuversicht, dass sich die Mandelas und Mutter Teresas durchsetzen gegen Fanatiker und Diktatoren?
Ob sie sich durchsetzen, weiss ich nicht. Ich erlebe aber, wie sie sich nicht kleinkriegen lassen. Ich glaube nicht an ein Happy End wie in Hollywood, aber Fatalismus können wir uns faktisch nicht leisten. Wir müssen die Möglichkeiten zum Handeln nutzen. Diese Menschen zeigen mir, dass es trotz allem immer Möglichkeiten gibt. Das zu sehen, macht bescheiden, und ist ein gutes Mittel gegen Depression.