Recherche 04. Juli 2019, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Punktsieg für die Menschlichkeit»

Migration

EKD-Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm spricht mit «reformiert.» über die Freilassung der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete.

Wie beurteilen sie die Freilassung der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete?

Heinrich Bedford-Strohm: Ich sehe diese Entscheidung als Punktsieg für Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit und als ermutigendes Zeichen, dass bestimmte Grundorientierungen, die für das Recht überall in Europa verbindlich sind, nicht zur Disposition stehen. Viele Menschen in Politik und Zivilgesellschaft haben diese Grundorientierungen in den letzten Tagen stark gemacht und damit Flagge gezeigt: Menschen vor dem Ertrinken zu retten, hat immer Vorrang. Diejenigen, die das als einzige noch organisiert tun, dürfen nicht kriminalisiert werden. Jetzt ist es dringliche Aufgabe der Politik, einen Mechanismus zu etablieren, der die Anlandung von geretteten Menschen und ihre Verteilung auf aufnahmebereite Länder verlässlich regelt und damit verhindert, dass wir das unwürdige Drama der letzten Wochen noch einmal erleben.

Haben Sie auch Verständnis für die Lage von Italien, das praktisch als einziges Land angesteuert wird und mit der Flüchtlingsfrage jahrelang überfordert wurde?

Die vergangenen Wochen haben jedenfalls noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass es umgehend einen europäischen Verteilmechanismus geben muss. Da darf auch Italien nicht allein gelassen werden. Was die Geretteten auf der Seawatch 3 angeht, hatten aber nicht nur Städte und Kommunen in Deutschland, sondern auch einige Länder die Aufnahme in Aussicht gestellt. Auch die italienischen protestantischen Kirchen hatten den staatlichen Behörden zugesagt, sofort die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen und zu versorgen. Der italienische Staat hätte überhaupt nichts zu schultern gehabt. Aber Innenminister Salvini hat schlicht blockiert, weil er offensichtlich ein Exempel statuieren wollte.

Plädieren Sie dafür, dass Deutschland noch mehr Flüchtlinge aufnimmt?

Deutschland leistet als geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft seinen Beitrag zur Bewältigung der weltweiten Migrationsbewegungen. Das ist angesichts seiner enormen Wirtschaftskraft aber auch absolut notwendig. Als Kirchen haben wir aber nie gesagt, dass Deutschland alle 71 Millionen weltweit auf der Flucht befindlichen Menschen allein aufnehmen kann. Bei diesem globalen Kraftakt müssen alle zusammenarbeiten. Dass das reiche Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern auch seinen Teil der Last trägt, sollte selbstverständliche Christenpflicht sein.

Ist die Willkommenskultur im Land noch spürbar oder ist die Stimmung längst gekippt?

Es gibt nach wie vor eine tiefe Empathie, ein Mitleiden mit den Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Das Willkommen war nicht nur ein Event, dem jetzt der Kater folgt. Da waren Menschen mit einer Grundhaltung am Werk. Das hat man an der breiten Solidarität für die Menschen auf der Seawatch gerade einmal mehr deutlich sehen können. Natürlich gibt es auch kritische Fragen und Ängste. Darüber muss gesprochen werden. Denn es ist Ausdruck der Sorge, die sich die Menschen hier bei uns machen.

Gegner der Seenotrettung sagen, Schlepperbanden spekulieren darauf, dass Migranten vor dem Ertrinken gerettet werden und so nach Europa gelangen.

Natürlich muss man die verbrecherischen Schlepperbanden bekämpfen. Aber doch nicht dadurch, dass man Menschen einfach ertrinken lässt! Wer würde einen unangeschnallten Autofahrer, der am Baum landet, zur Abschreckung verbluten lassen? Wer würde Skifahrer, die abseits der Piste aus Leichtsinn von einer Lawine verschüttet werden, einfach sterben lassen? Man muss retten und dann alles tun, um Menschen aufzuklären und vor Leichtsinn zu bewahren. Im Falle der Flüchtlinge ist der Grund für die lebensgefährliche Überfahrt nicht Leichtsinn, sondern Verzweiflung! Deshalb hilft es langfristig nur, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Genau deswegen arbeiten wir als Kirchen, zum Beispiel über Brot für die Welt in Deutschland oder Brot für alle in der Schweiz, seit Jahrzehnten in den Ländern selbst mit unzähligen Entwicklungsprojekten. Das ist echtes konkretes Handeln, um Perspektiven dort zu schaffen.

Warum ist es die Aufgabe der evangelischen Kirche in Deutschland, sich in die Rettungseinsätze am Mittelmeer einzumischen?

Für mich ist das geradezu eine humanitäre Pflicht. Bei dem Drama um die Geretteten der Seawatch ging es um die akute Rettung von Menschenleben. Dafür werden wir uns als Kirchen auch weiter einsetzen. Alle anderen flüchtlingspolitischen Lösungen müssen diskutiert werden. Aber nicht, ohne Menschen zu retten, deren Leben unmittelbar bedroht ist.

Heinrich Bedford-Strohm

In Memmingen geboren, wuchs Heinrich Bedford-Strohm in einem Pfarrhaus auf. Zuerst begann er ein Jurastudium, wechselte aber bereits nach einem Jahr zu den Theologen. Er studierte danach in Erlangen, Heidelberg und Berkeley. Später war er Assistent 
am Lehrstuhl Systematische Theologie und Sozialethik in Heidelberg.

Nach Doktorarbeit und Habilitation war Bedford-Strohm Professor in Giessen, Bamberg und Stellenbosch, Südafrika. Dazwischen wirkte er zweimal als Pfarrer an der Morizkirche in Coburg. Seit 2011 ist er Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. 2014 wurde er zum Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt.

Gemeinsam mit der Waldenser Kirche, der protestantischen Kirche in Italien, engagiert sich die Evangelische Kirche Deutschland für eine humanitäre Flüchtlingspolitik am Mittelmeer und in ganz Europa. Im Juni besuchte Bedford-Strohm das Rettungsschiff Sea-Watch 3.