Wir sind reformiert, Sie lutherisch. Haben wir eigentlich die gleiche Konfession?
Heinrich Bedford-Strohm: Wir sind alle miteinander evangelisch. Das Reformationsjubiläum wurde bewusst so geplant, dass lutherische und reformierte Stimme beide zu hören sind. Der europäische Stationenweg startete in Genf. Das war ein starkes Zeichen, das mich gefreut hat.
Und doch überstrahlt der zum Markenbotschafter umfunktionierte Luther alles. Ist Ihnen dieser ideelle Ausverkauf unheimlich?
Im Gegenteil. Mich nervt diese pauschale Kulturkritik. Dass die Playmobilfigur von Luther über 450 000 Mal verkauft wurde, ist eine Chance, ihn bekannt zu machen. Solche spielerischen Elemente machen es möglich, Inhalte zu transportieren. Unsere Adressaten sind nicht nur Universitätsprofessoren. Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen und für das Jubiläum begeistern. Da hilft uns jede Lutherstadt, jede humorvolle Aktion und manches Marketingprodukt. Wir dürfen nur nicht an der Oberfläche stehen bleiben, sondern müssen die Aufmerksamkeit nutzen, die Botschaft der Reformation zu vermitteln.
Die da lautet?
Dass es nicht zuerst um Luther geht, sondern darum, neu auf Christus hinzuweisen. Aus seiner Kraft und seiner Rechtfertigung wollen wir leben und unseren Glauben bezeugen durch unser eigenes Leben, indem wir uns dem Nächsten und der Gemeinschaft zuwenden. Die Liebe, die wir von Gott empfangen und die an Leistungen nicht gebunden ist, selber weiterzugeben – darum geht es.
Wie nahe sind Ihnen die Schweizer Kirchen abgesehen vom Reformationsjubiläum?
Unsere Beziehungen sind sehr gut. Und mit dem grossen Schweizer Theologen Karl Barth habe ich mich schon im Studium intensiv beschäftigt. Seine Christozentrik ist für mich ganz entscheidend: dass Christus Herr ist über alle Bereiche unseres Lebens, was auch Wirtschaft und Politik einbezieht. Diese Erkenntnis verbindet Lutheraner und Reformierte.
Luthers Lehre der zwei Reiche – hier die weltliche Ordnung, dort das Gottesreich – muss Ihnen da ein Ärgernis sein.
Warum denn? Die Interpretation, Luther habe weltliche und göttliche Ordnung getrennt, ist ein historisches Missverständnis. Er hat beide Ordnungen unterschieden, aber aufeinander bezogen. Wir leben immer in beiden Ordnungen und sind in beiden Gott und unseren Mitmenschen verantwortlich. Genauso wie der Zürcher Reformator Zwingli war Luther überzeugt, dass es eine weltliche Ordnung braucht, die sich zwar am Evangelium orientiert, aber dass zwischen dem von Jesus verheissenen Gottesreich und der Welt eine Spannung bleibt.
Mit der Schrift «Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern» heizte Luther aber den Bauernkrieg an und stellte sich auf die Seite der Fürsten.
Die Wirkung dieser Worte war fürchterlich. Aber Luther war zugetragen worden, dass die Bauern plündernd und vergewaltigend durch die Dörfer zogen. Deshalb sein Zorn. Die Forderung der Bauern unterstützte er, nur die revolutionäre Methode lehnte er ab. Luther überzog mit seiner Polemik. Doch er stellte eine wichtige Frage: Wie kann soziale Ungerechtigkeit überwunden werden, ohne dass die Anarchie ausbricht?
Sie sagten, Luthers Lehre der zwei Reiche sei falsch interpretiert worden. Inwiefern?
Lesen wir heute bei Luther oder in der Bibel über «Obrigkeit», müssen wir das im demokratischen Zeitalter mit dem Begriff des Rechts übersetzen. Das Recht schützt die Schwachen und ist anzuerkennen. Bei aller Problematik in seinen Folgerungen war dies Luthers Grundanliegen. Was als seine Lehre der zwei Reiche rezipiert wurde, besagt einzig, dass man die Gesetze der Bergpredigt nicht einfach wörtlich befolgen kann, weil die Schwachen sonst dem Bösen praktisch ausgeliefert wären. Luthers Thesen wurden später völlig falsch interpretiert und ein Widerspruch zum politischen Engagement auf Basis des Evangeliums konstruiert. Das war fatal. Luther sagte nie, dass im weltlichen Bereich Gesetze gelten, die mit Gott nichts zu tun haben. Er sagte: Gottes Liebe herrscht über beide Reiche, nur eben in je eigener Weise.
Das klingt schon fast nach Zwinglis Modell von der göttlichen und der weltlichen Gerechtigkeit, die zwar nicht eins sind, sich aber aufeinander beziehen müssen.
Das sage ich ja. Luther hat den Frühkapitalismus schonungslos kritisiert. Er hat ein Vorwort zur Leisniger Kastenordnung geschrieben, das sozusagen den modernen Sozialstaat schon in den Blick nimmt. Mir ist rätselhaft, warum die wirtschaftsethischen Schriften Luthers so unbekannt sind. Sogar im Kapital von Karl Marx wird er häufig zitiert.
Marx war wohl für viele keine gute Referenz.
Vielleicht. Ich habe 1984 in Berkeley, als ich eine Seminararbeit schrieb, in der riesigen amerikanischen Lutherausgabe nicht einmal die wichtige Schrift «An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen» gefunden. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass die Schriften verdrängt wurden, weil sie unbequem sind.
Sie hatten zuerst ein Jurastudium begonnen, bevor Sie zur Theologie wechselten. Zögerten Sie, als Pfarrerssohn Theologie zu studieren, und suchten zuerst die Distanz?
Vielleicht war eine Hemmschwelle da, in die Fussstapfen des Vaters zu treten. Aber zu distanzieren brauchte ich mich nicht vom Pfarrhaus. Für das Jurastudium entschied ich mich, weil mich schon als Schüler die Frage der Gerechtigkeit interessierte. Doch rasch merkte ich, dass die mir wichtigen Aspekte eher in der Theologie verhandelt werden. Ich besuchte Gottesdienste, las in der Bibel und war fasziniert, wie hier existenzielle Fragen verhandelt werden. So entschied ich mich für Theologie, obwohl ich unsicher war, ob mein Glaube stark genug ist.
Als Heidelberger Student demonstrierten Sie schweigend für den Frieden. 2014 waren Sie für die Bewaffnung der kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den IS. Der klassische Wandel vom Utopisten zum Realisten?
Eben gerade nicht. Den radikalen Pazifismus habe ich nie unterstützt. Ich war als Sanitätssoldat auch in der Bundeswehr. Ich wusste immer, dass es Situationen geben kann, in denen die unmögliche Möglichkeit der Gewaltanwendung vielleicht nicht vermieden werden kann. Der Vorrang der Gewaltfreiheit steht für mich aber ausser Frage. Gewalt ist stets eine Niederlage. Ich lehnte die Bewaffnung der Peschmerga nur deswegen nicht ab, weil ich keine andere Möglichkeit sah, die Menschen im Irak zu schützen. Ich habe diese Menschen selbst besucht. Sie waren in panischer Angst vor dem IS. Ich konnte nicht sehen, wie man ihnen wirksamen Schutz hätte verweigern können. Deswegen habe ich damals eine militärisch gesicherte UN-Schutzzone gefordert, die aber nie zustande kam.
Die evangelischen Kirchen leiden heute unter einem Bedeutungsverlust.
Also für Deutschland gilt das nicht. Aber stellen Sie zuerst Ihre Frage.
Der Mitgliederschwund ist in Deutschland jedenfalls mindestens so gross wie in der Schweiz. Welche Zukunft haben die Landeskirchen mit Blick auf diese Entwicklung?
Strukturen sind historisch gewachsen, weshalb sie immer wieder angepasst werden müssen. Entscheidend ist, dass die Botschaft des Evangeliums möglichst viele Menschen erreicht. In einer zunehmend multireligiösen Gesellschaft wächst nach meinem Eindruck die Bedeutung der grossen Kirchen sogar noch. Wenn eine normative Kraft fehlt, führt dies zu Orientierungslosigkeit. Ich beobachte, dass bei Fragen von öffentlichem Interesse von den Kirchen eher mehr erwartet wird.
Die Kirchen als öffentliche Ratgeberinnen?
Wo sind denn heute die Orte, an denen normative Grundfragen verhandelt werden? An den philosophischen Fakultäten werden Bücher über Ethik verfasst. Nur erreichen die eher ein begrenztes akademisches Publikum. Auch gesellschaftliche Organisationen wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände befassen sich mit grundsätzlichen Fragen. Doch deren Ethikreferenten haben ihre Büros irgendwo in einem Seitenflügel und nicht direkt neben dem Chef. Die Kirche ist die einzige breit abgestützte Organisation, bei der die Ethik zum Kern ihres Auftrags gehört. Und dass sich die Kirche in die Politik einmischt, ohne Tagespolitik zu betreiben, ist durchaus erwünscht.
Wie können die evangelischen Kirchen Orientierungshilfe geben, wenn sie in sich selbst schon pluralistisch sind? Da haben es die Katholiken mit ihrem Lehramt einfacher.
Das glaube ich nicht. Die evangelischen Kirchen sind geradezu prädestiniert dafür, weil ihre Positionen nicht von oben her, sondern im Diskurs von unten entstehen. Die Verbindlichkeit der Äusserungen wächst mit der Intensität des kommunikativen Prozesses, der ihnen vorausgeht. Das zeigt sich an den Stellungnahmen der Synoden, die keineswegs in die Beliebigkeit führen. Eine grosse Stärke des Protestantismus ist, dass er auf Basis des christlichen Glaubens stellvertretende Konsense für die Gesellschaft schaffen kann. Es ist wohl kein Zufall, dass viele Persönlichkeiten als Bundespräsidenten gewählt wurden, die in solchen Prozessen mitgearbeitet haben: Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau, Joachim Gauck und jetzt auch der Kandidat Frank-Walter Steinmeier.
Da haben Sie noch eine Karriere vor sich.
Das ist nun wirklich irrelevant. Ich bin ja auch kein Kirchentagspräsident oder Präses einer Synode.
Die evangelische Kirche hat sich in der Flüchtlingsfrage stark exponiert. Aus politischen oder theologischen Motiven?
Das Doppelgebot der Liebe ist eindeutig: «Du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lukas 10,27). Wir können keinen Gottesdienst feiern, ohne den Nächsten in den Blick zu nehmen. Sonst wird der Gottesdienst zum bloss rituellen Kult. Die Kultkritik der Propheten ist unmissverständlich: «Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder, denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach» (Amos 5,23–24). Dass wir uns da einmischen müssen, wo Menschen in Not sind, das ist sonnenklar. Die theologische Motivation ist also offenkundig.
Und die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung darf man deshalb nicht kritisieren?
Bibelstellen dürfen keine Moralkeule sein gegen bestimmte Positionen. Aber sie sollten Christenmenschen nachdenklich machen. Kein Land kann alle Flüchtlinge aufnehmen. Doch wir müssen helfen, damit möglichst viele notleidende Menschen in Würde leben können. Deshalb ist es richtig, dass ein Land sein Herz so weit macht wie möglich.
Vielen Menschen macht die hohe Zahl der Flüchtlinge in ihrem Land jedoch Angst.
Das ist verständlich. Auch mir macht es Sorge, dass so viele Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen. Und es ist gut und wichtig, dass man inzwischen die Möglichkeiten deutlich verbessert hat, die Menschen zu registrieren und so zu wissen, wer im Land ist. Ich habe nie für die Abschaffung von Grenzen plädiert. In der konkreten Situation im September 2015 befand sich die Regierung aber in einer Ausnahmesituation und hat im Sinne der Humanität richtig gehandelt.
Die Angst vor dem Islam verstehen Sie auch?
Wir müssen zwei Dinge klar auseinanderhalten: Flüchtlingen muss nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach den Gesetzen unseres Landes geholfen werden. Und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Fluchtursachen zu mindern. Aber weder Flüchtlinge allgemein noch eine Religion dürfen unter Generalverdacht für Straftaten genommen werden. Wir brauchen einen Staat, der Verfassung und Recht wirksam schützt. Je vielfältiger die Gesellschaft, desto klarer müssen die Regeln sein.
Braucht es heute zusätzliche Regeln?
Die Regeln des deutschen Grundgesetzes sind sehr gute Regeln. Sie verdanken sich massgeblich Impulsen christlicher Ethik, sind aber begründungsoffen für alle religiösen und weltanschaulichen Traditionen. Wir brauchen eine starke Gesellschaft, die auf dieser Basis gemeinsam dem Terror widersteht. Umso wichtiger ist das Gespräch mit konkreten Menschen hierzulande. Zum Dialog mit Muslimen, die in Deutschland leben, gibt es keine Alternative. Für viele von ihnen ist der Einsatz für die Menschenwürde der gemeinsame Bezugspunkt. Sie wehren sich deswegen mit grosser Klarheit gegen islamistische Gewalttäter und tun das gerade auf der Basis ihrer Religion.
Also gibt es keine Probleme?
Dialog beruht darauf, dass wir den jeweils eigenen Standpunkt klarmachen. Ich spreche deswegen natürlich auch in einer Moschee darüber, wie wichtig mir die Trinität ist. Unser trinitarisches Gottesverständnis ist ein markanter Unterschied zum muslimischen Gottesbild. Dass Gott Mensch geworden und am Kreuz mit einem Verzweiflungsschrei gestorben ist, könnten Muslime so nie sagen. Man muss sich auch über die Freiheit zum Religionswechsel verständigen. Natürlich taufen wir Muslime, die aufgrund des Kontakts mit unseren Gemeinden Christen werden möchten. Sie besuchen dann einen Glaubenskurs und werden getauft. Diese Freiheit, seine Religion zu wählen, muss genauso selbstverständlich sein wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wenn man den Dialog allerdings zum Teil einer Missionsstrategie macht, beendet man ihn, bevor er begonnen hat.
Dialog sollte auch in die andere Richtung funktionieren. Das Präsidium des evangelischen Kirchentags hat die Partei AfD jedoch vom Kirchentag 2017 ausgeschlossen.
Der Kirchentag hat die Entscheidung, wer auf Podien eingeladen wird, gerade nicht an der Parteizugehörigkeit festgemacht. Aber es gibt rote Linien. Hetze gegen Menschen, insbesondere gegen Schwache, die Abwertung und auch Bel-eidigung von Menschen, die in Not sind, das geht nicht.
Der Kirchentag hat also richtig entschieden?
Das Präsidium hat gesagt: Leute, die hetzen, sollen nicht aufs Podium geladen werden. Egal welches Parteibuch sie haben. Dem stimme ich zu.
Inwiefern befürchten Sie nach dem Terroranschlag von Berlin eine weitere Verhärtung der politischen Fronten?
Deutschland hat auf diesen Anschlag sehr reif reagiert. Diejenigen, die sofort versucht haben, daraus politisches Kapital zu schlagen, sind in die Schranken gewiesen worden. Die Tage nach dem Anschlag waren geprägt von stiller Trauer und Mitgefühl. Eine Diskussion darüber, was man polizeilich und sicherheitspolitisch aus den Defiziten im Vorfeld dieses Anschlags lernen kann, ist völlig richtig. Was immer wir mit den Mitteln des Rechtsstaates tun können, um das Risiko solcher Terrortaten zu begrenzen, sollten wir tun. Absolute Sicherheit kann es nie geben. Deswegen sind die Quellen unseres Glaubens so wichtig, die uns helfen, die Angst zu überwinden und aus dem Vertrauen zu leben.
Luther hat vor 500 Jahren seine Thesen veröffentlicht. Wie lautet die 96. These, die Sie heute an die Kirchentür schreiben würden?
Dass wir Glaube und öffentliches Engagement nie gegeneinander ausspielen dürfen, sondern dass das eine sich aus dem anderen ergibt. Ich bin überzeugt: Wer fromm ist, muss politisch sein. Ich beziehe mich auf das Doppelgebot der Liebe.