Recherche 28. Januar 2022, von Cornelia Krause

«Ratzinger legt die Axt an das Papstamt»

Missbrauch in der Kirche

In einem Gutachten wird dem einstigen Papst Benedikt XVI Vertuschung vorgeworfen. Kirchenrechtler Thomas Schüller fordert Reformen und die Übernahme von persönlicher Verantwortung.

Der Vertreter einer Opferorganisation hat das Gutachten zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising als eine «historische Erschütterung» der Kirche bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Mit dem Begriff historisch bin ich vorsichtig, er wird inflationär verwendet. Aber das Gutachten ist eine Zäsur. Die systemischen Ursachen von Missbrauch und die Altersstruktur der Täter waren zwar schon durch Untersuchungen in anderen Diözesen bekannt. Wirklich bemerkenswert ist aber, dass erstmals sehr hochrangige, noch lebende klerikale Leitungseliten zur Verantwortung gezogen werden, die teils noch im Amt sind. Der amtierende Erzbischof Reinhard Marx beispielsweise. Und der ehemalige Papst Benedikt XVI, jetzt Privatier Joseph Ratzinger. Erschreckend ist auch, wie Ratzinger in seiner Stellungnahme empathielos und am Wohlergehen der Opfer vorbei argumentiert hat. Er hat nur den Schutz des Klerus im Blick und wird nun auch noch der Unwahrheit überführt.

Ratzinger hat im Gutachten an mehreren Stellen behauptet, an einer Sitzung nicht dabei gewesen zu sein, an der über einen Pfarrer gesprochen wurde, der mehrfach wegen Kindesmissbrauchs aufgefallen war. Dabei war der einstige Papst laut Sitzungsprotokoll anwesend. Später musste er die Teilnahme doch zugeben. Wie glaubwürdig ist Ratzinger noch?

Er hat seine Glaubwürdigkeit verspielt. Und zwar auf absurde Art. Denn die Frage der Anwesenheit an dieser Sitzung scheint er in einem Gutachten von 2010 schon mit «Ja» beantwortet zu haben. Damals gab er an, dass der besagte Fall nicht so detailliert besprochen worden sei, als dass er eine Ahnung von der pädokriminellen Vergangenheit des Priesters gehabt haben könnte. Im neuen Gutachten versuchten ihn seine Berater offenbar komplett reinzuwaschen.

In seiner Stellungnahme spricht Ratzinger von Fehlverhalten statt Missbrauch, verharmlost Exhibitionismus und argumentiert mit einer anderen Sicht, Rechtslage und Moralvorstellung zum Zeitpunkt der Taten. Ist das juristisch haltbar?

Ratzinger hat den Zeitgeist der 68er Jahre immer gegeisselt und betont, dass die Kirche im platonisch-theologischen Denken gerade in Sexualfragen ewige Wahrheiten lehrt. Jetzt wird der Zeitgeist plötzlich Teil seiner Verteidigungsstrategie. Hinzu kommt: Die Verharmlosung von Exhibitionismus ist auch staats- und kirchenrechtlich falsch. Auch wenn das Opfer nicht berührt wurde, war Exhibitionismus schon damals ein Tatbestand, der unter das sechste Gebot («Du sollst nicht ehebrechen») fiel. Die Berührung war nur für das Strafmass entscheidend. Schlussendlich argumentiert der ehemalige Papst auch noch, der betroffene Priester habe die Taten als Privatmann begangen, nicht in der Funktion des Pfarrers oder Religionslehrers. Doch nach der katholischen Theologie des sakramentalen priesterlichen Weiheamtes ist ein Priester immer im Amt, 24 Stunden am Tag. Man merkt: Die Rechtsberater, die Ratzinger an seiner Seite hat, haben ihn in schlimme Abgründe laufen lassen. Es ist eine unterirdische, peinliche Verteidigungsstrategie.

Kirchenrechtler und Theologe

Thomas Schüller, 60, ist römisch-katholischer Theologe. Seit 2009 ist der gebürtige Kölner Professor für Kirchenrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und leitet das Institut für Kanonisches Recht. Von 1994 bis 2009 war Schüller Leiter der Stabsstelle Kirchliches Recht im Bischöflichen Ordinariat Limburg.

Also vor allem ein Fehler der Berater?

So einfach ist das nicht. Denn Ratzinger hat das Gutachten unterschieben und es sich damit zu eigen gemacht. Am Anfang betont er sogar, er sei zwar ein alter, kränklicher Mann, aber noch vollkommen fit und könne sich sehr gut an die damaligen Vorkommnisse erinnern. Daran ist er zu messen.

Inwiefern kratzt das Hin und Her auch an der Glaubwürdigkeit der Kirche?

Ratzinger legt die Axt an das Papstamt und beschädigt die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Denn man verbindet mit ihm noch immer das Papstamt, und der Papst ist für alle Katholiken, auch die kritischen, eine Leitfigur. Er und das Bischofskollegium haben die volle Leitungsgewalt, vor allem auch die Lehrgewalt in der katholischen Kirche. Wenn jemand in so einer Position sexuellen Missbrauch vertuscht, herunterspielt und auch noch peinliche Erklärungen abgibt, entsteht für die katholische Kirche insgesamt ein grosser Schaden.

Ist eine Welle an Kirchenaustritten zu befürchten?

Die Kirche verliert ja ohnehin bereits Mitglieder. Aber in Bayern kommen die Standesämter offenbar derzeit gar nicht mehr hinterher, die Kirchenaustrittsgesuche zu bearbeiten. Ja, ich rechne damit, dass diese Dynamik nun noch beschleunigt wird. Mich trifft schwer besonders schwer, dass nun vermehrt auch Menschen die Kirche verlassen, die in ihren Gemeinden und Verbänden aktiv waren. Ich kenne solche Fälle aus meinem eigenen Umfeld. Hier verlassen zu zehntausenden Menschen die Kirche, die sie bis vor kurzem noch getragen haben.

Die Gutachten geben bislang immer die Bistümer in Auftrag. Müsste nicht der Vatikan selbst klarer Aufklärung über Missbrauch einfordern?

Die Glaubenskongregation hat alle Bischofskonferenzen um Zahlen gebeten. Aber eine zentral angeordnete Untersuchung wurde noch nicht eingefordert. Allerdings sollte man die Möglichkeiten des Papstes, so etwas von oben anzuordnen, nicht überschätzen. Die deutschsprachigen Länder haben die römischen Vorgaben zu Prävention und Leitlinien inzwischen konsequent umgesetzt. Aber es gibt ganz viele Bischofskonferenzen in der Weltkirche, die noch gar nicht aktiv sind.  In vielen kulturellen Kontexten ist noch nicht einmal ein Problembewusstsein dafür da, das hört man auch aus der päpstlichen Kinderschutzkommission. 

Das Münchner Gutachten

Das vom Erzbistum München Freising in Auftrag gegebene Gutachten listet Hinweise auf fast 500 Opfer sexualisierter Gewalt auf. Es wurde am 20. Januar von der Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl vorgestellt und untersucht Missbrauchsfälle aus den Jahren 1945 bis 2019. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie - darunter 173 Priester. Allerdings gehen die Gutachter von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus. Die Untersuchung belastet hochrangige Kirchenfunktionäre schwer, darunter auch den emeritierten Papst Benedikt XVI. Ihm schreibt das Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit vier Fällen von sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums von 1977 bis 1982 zu. Auf 82 Seiten nahm der einstige Papst Stellung und wies ein Fehlverhalten zurück.

Wie erfolgreich sind überhaupt Untersuchungen, die von der Kirche selbst in Auftrag gegeben werden? 

Die Ergebnisse können sich schon sehen lassen und sind in weiten Teilen aussagekräftig. Die Kirche sagt, sie kooperiert und öffnet ihre Archive. Aber ob sie wirklich das ganze Material zur Verfügung stellt, lässt sich nicht überprüfen. Ich glaube, in Deutschland mehren sich die Stimmen für ein anderes Modell: Wahrheitskommissionen, wie wir sie aus dem südafrikanischen Versöhnungsprozess nach dem Ende der Apartheid kennen. Sie könnten mit den Rechten einer Staatsanwaltschaft Missbrauch auf allen gesellschaftlichen Ebenen untersuchen, darunter die Kirchen. Dafür braucht es aber im deutschsprachigen Raum, auch in der Schweiz, zuerst eine gesetzliche Grundlage. 

Was wären die Vorteile einer solchen Kommission?

In Frankreich gab es jüngst so eine Untersuchung und da wurden über 250 000 Opfer identifiziert. Es kommen dann ganz andere Zahlen zusammen, weil Opfer sexualisierter Gewalt einer unabhängigen staatlichen Stelle mehr vertrauen als einer kirchlichen. 

Was braucht es jetzt an Krisenmanagement des Vatikans? Was würden Sie dem Papst raten?

Papst Franziskus hat bereits einige Weichen richtiggestellt. Im vergangenen Dezember wurde die Vertuschung als Straftatbestand neu in das Kirchenrecht aufgenommen. Die Klausel des Verstosses gegen das sechste Verbot sollte ausgeweitet werden und Straftatbestände konkret beschrieben werden. Dann sollten Opfer die Chance haben, im kirchenrechtlichen Prozess als Nebenkläger aufzutreten, so wie sie es im staatlichen Recht können. Sie hätten dann Parteirecht, könnten Akten einsehen, das Strafmass beantragen, es würde quasi «Waffengleichheit» herrschen zwischen den Parteien. Dazu gibt es bereits Überlegungen, aber es dauert immer ewig, bis etwas umgesetzt wird in Rom. Und schlussendlich würde ich dem Papst raten, nicht immer nur den verzeihenden Papa oder gütigen Opa zu geben. Stattdessen sollte er Rücktrittsgesuche von Kardinälen, wie etwa vor einem Jahr von Kardinal Marx, auch einmal annehmen. Sonst wird der Vatikan den Opfern nicht gerecht.

Ratzinger sollte als Zeichen seiner Busse und Reue das weisse Gewand ablegen. Es ist ohnehin für den amtierenden Papst reserviert.
Thomas Schüller, Theologe und Kirchenrechtler

Bräuchte es von Ratzinger eine Entschuldigung?

Nicht nur von ihm, sondern von allen Vertuschern. Sie müssen das Wort «Ich» in den Mund nehmen. Es geht wie in der protestantischen Theologie darum, die Selbstanklage zu führen: «Ich bin ein Sünder, Herr mach mich gerecht, ich klage mich selbst an.» Es geht um persönliche Verantwortung. Ganz peinlich ist es, von der eigenen Scham und Bestürzung zu reden und auch noch zu sagen, man bete für die Opfer. Die Opfer erleben das wie eine Retraumatisierung. Vom ehemaligen Papst würde ich aber noch mehr erwarten.

Nämlich?

Dass er als Zeichen seiner Busse und Reue das weisse Gewand ablegt. Es ist ohnehin für den amtierenden Papst reserviert, er begeht da klar einen Rechtsverstoss. Und er sollte aufhören, sich «Papst Emeritus» zu nennen, diesen Titel gibt es gar nicht. Mit seinem Vermögen könnte er einen unabhängigen Fonds alimentieren, der Missbrauchsopfer in seiner einstigen Erzbistum München Freising grosszügig entschädigt. 

Wie steht es um strukturelle Reformen in der Kirche?

Auch das braucht es. Es geht im Kern darum, die bischöfliche Macht einzugrenzen und verstärkt checks and balances zu schaffen. Der synodale Weg in Deutschland hat genau dieses Ziel. Bereits jetzt haben die Bischöfe sich dazu verpflichtet, interne Anzeigen sofort an die staatlichen Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Hier wäre ein Berichtswesen ganz entscheidend, über das dann unabhängige Gläubige informiert werden, die ein Urteil fällen. Man darf aber auch nicht vergessen: Wir haben es beim Papst und auch beim Bischofsamt mit der Vergöttlichung eines geistlichen Leitungsamtes zu tun. 

Sie sprachen Strafermittlungen an. Was passiert nun im Zuge des Münchner Gutachtens?

Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Auch gegen Joseph Ratzinger. Sie muss verschiedene Punkte prüfen, etwa den Vorsatz, die Tat an sich und die Zurechenbarkeit einer Straftat. Am Ende wird die Verjährung die entscheidende Rolle spielen. Hinzu kommt: Ratzinger hat zwar keine Immunität mehr, aber als Kardinal noch immer den Diplomatenstatus. Faktisch wird ihm also nichts passieren. Würde die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aber nur aufgrund der Verjährung einstellen, gäbe das noch einmal eine grössere Welle in den Medien. 

Auch die Universität Zürich wurde mit einer Untersuchung zum Missbrauch in der katholischen Kirche beauftragt. Welche Lehren kann die Schweizer Bischofskonferenz aus dem Münchner Gutachten ziehen?

Missbrauch nicht zu verharmlosen und voll zu kooperieren. Wenn die Verantwortlichen identifiziert sind, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden und auch öffentlich Busse tun. Und die Kirchen müssen die richtigen Schlüsse ziehen aus derartigen Gutachten. Das betrifft ja nicht nur die katholische Kirche. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, hat eingeräumt, dass es auch in der evangelischen Kirche ein Problem gibt. Nur handelt es sich bei den Opfern vielfach um Konfirmandinnen, die oft von heterosexuellen, verheirateten Pfarrern missbraucht werden. Jede Kirche hat ihre eigenen Hausaufgaben zu machen. Der traurige, ökumenisch verbindende wunde Punkt ist die asymmetrische Machtkonstellation, die in einer Seelsorgesituation entsteht und ausgenutzt werden kann.