Der Vertreter einer Opferorganisation hat das Gutachten zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising als eine «historische Erschütterung» der Kirche bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?
Mit dem Begriff historisch bin ich vorsichtig, er wird inflationär verwendet. Aber das Gutachten ist eine Zäsur. Die systemischen Ursachen von Missbrauch und die Altersstruktur der Täter waren zwar schon durch Untersuchungen in anderen Diözesen bekannt. Wirklich bemerkenswert ist aber, dass erstmals sehr hochrangige, noch lebende klerikale Leitungseliten zur Verantwortung gezogen werden, die teils noch im Amt sind. Der amtierende Erzbischof Reinhard Marx beispielsweise. Und der ehemalige Papst Benedikt XVI, jetzt Privatier Joseph Ratzinger. Erschreckend ist auch, wie Ratzinger in seiner Stellungnahme empathielos und am Wohlergehen der Opfer vorbei argumentiert hat. Er hat nur den Schutz des Klerus im Blick und wird nun auch noch der Unwahrheit überführt.
Ratzinger hat im Gutachten an mehreren Stellen behauptet, an einer Sitzung nicht dabei gewesen zu sein, an der über einen Pfarrer gesprochen wurde, der mehrfach wegen Kindesmissbrauchs aufgefallen war. Dabei war der einstige Papst laut Sitzungsprotokoll anwesend. Später musste er die Teilnahme doch zugeben. Wie glaubwürdig ist Ratzinger noch?
Er hat seine Glaubwürdigkeit verspielt. Und zwar auf absurde Art. Denn die Frage der Anwesenheit an dieser Sitzung scheint er in einem Gutachten von 2010 schon mit «Ja» beantwortet zu haben. Damals gab er an, dass der besagte Fall nicht so detailliert besprochen worden sei, als dass er eine Ahnung von der pädokriminellen Vergangenheit des Priesters gehabt haben könnte. Im neuen Gutachten versuchten ihn seine Berater offenbar komplett reinzuwaschen.
In seiner Stellungnahme spricht Ratzinger von Fehlverhalten statt Missbrauch, verharmlost Exhibitionismus und argumentiert mit einer anderen Sicht, Rechtslage und Moralvorstellung zum Zeitpunkt der Taten. Ist das juristisch haltbar?
Ratzinger hat den Zeitgeist der 68er Jahre immer gegeisselt und betont, dass die Kirche im platonisch-theologischen Denken gerade in Sexualfragen ewige Wahrheiten lehrt. Jetzt wird der Zeitgeist plötzlich Teil seiner Verteidigungsstrategie. Hinzu kommt: Die Verharmlosung von Exhibitionismus ist auch staats- und kirchenrechtlich falsch. Auch wenn das Opfer nicht berührt wurde, war Exhibitionismus schon damals ein Tatbestand, der unter das sechste Gebot («Du sollst nicht ehebrechen») fiel. Die Berührung war nur für das Strafmass entscheidend. Schlussendlich argumentiert der ehemalige Papst auch noch, der betroffene Priester habe die Taten als Privatmann begangen, nicht in der Funktion des Pfarrers oder Religionslehrers. Doch nach der katholischen Theologie des sakramentalen priesterlichen Weiheamtes ist ein Priester immer im Amt, 24 Stunden am Tag. Man merkt: Die Rechtsberater, die Ratzinger an seiner Seite hat, haben ihn in schlimme Abgründe laufen lassen. Es ist eine unterirdische, peinliche Verteidigungsstrategie.