«Sprache hat grossen Einfluss aufs Wirklichkeitsbild»

Wissenschaft

Soll die Kirche wegen weiblicher Mehrheit nur von Pfarrerinnen reden? Sprachwissenschaftler Martin Luginbühl verneint – kritisiert aber faktenferne Empörung gegen Gendersterne.

In der reformierten Kirche sind Frauen in der Überzahl, und zwar bei den beruflich und freiwillig Engagierten wie auch bei den Studierenden der Theologie. Muss die Kirche ihre Sprache konsequent danach anpassen?

Martin Luginbühl: Es geht hier im Prinzip ums generische Maskulinum. Das sind Personen- oder Berufsbezeichnungen in der grammatisch männlichen Form, die aber stellvertretend für alle Geschlechter gelten sollen. Das ist auf mehreren Ebenen problematisch. Verschiedene Studien zeigen klar: Viele Nicht-Männer fühlen sich beim generischen Maskulinum nicht mitgemeint. Menschen denken dabei nicht generisch an Menschen, sondern primär an Männer. Dessen muss man sich bewusst sein. 

Was sollte das im Sprachgebrauch bewirken?

Man sollte auf dieser Grundlage entscheiden, wie man damit umgeht. In der Kirche wäre es meiner Ansicht nach schon nur eine Frage der Höflichkeit und Wertschätzung, die weiblichen oder andere inklusive Formen zu verwenden. 

Müsste auch die Bibel umgeschrieben werden?

Hier hat die konkrete Formulierung einen hohen Stellenwert. Eine Umformulierung wäre stark irritierend. Deshalb würde ich eher empfehlen, etwa in Predigten die Verwendung der Formen anzupassen, aber die Bibelstellen selbst zu belassen.

Martin Luginbühl (54)

Der Schaffhauser ist seit 2016 Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Basel. Zuvor war er Professor in Neuenburg. Seine Schwerpunkte sind Medien- und Textlinguistik und Gesprächsanalyse. In seiner aktuellen Forschung geht es um den Sprachgebrauch von Schulkindern.

Wie wirkt es sich aus, ob wir jetzt weiterhin einfach von Pfarrern und Organisten sprechen und schreiben – oder ob wir männliche und weibliche Formen verwenden – oder ob wir gar ausgleichend einfach mal ausschliesslich die weibliche Form nehmen?

Der Vorschlag für ein generisches Feminimum kann natürlich die bisherige Situation etwas ausgleichen. Persönlich finde ich es aber schwierig, eine problematische Form durch eine andere problematische Form zu ersetzen. Aber positiv daran sehe ich, dass dies durch Irritationen Diskussionen anstossen und den Effekt der Formen ins Bewusstsein rufen könnte. 

In der häufig geäusserten Empörung wird das «Gendern» als mühsam oder noch negativer angeschaut. Wie sehen Sie das aus wissenschaftlicher Sicht?

Das wird intensiv diskutiert. Schon in den 1980er-Jahren gab es grosse Diskussionen rund um die Einführung von Doppelformen, also die Nennung der weiblichen und männlichen Form. Genau gleiche Argumente wie damals werden heute gegen Schreibweisen wie Gendersterne oder -Doppelpunkte ins Feld geführt: Das sei zu ineffizient, zu mühsam. Doppelformen dagegen stellt niemand mehr in Frage. 

Ist es denn wirklich mühsam?

Die allermeisten Menschen stellen Sterne oder andere Formen beim Lesen vor keine Probleme. Bei Leseschwächen sicher ein wenig, aber entsprechende Formen kommen in Alltagstexten gemäss Studien nicht häufig vor. Ausserdem mag man es teils etwas mühsam empfinden – bewusst sein sollte man sich zugleich, dass die Gesellschaft durch die bessere Berücksichtigung der Geschlechter profitiert.

Als kleine Gruppe kann man nicht die Löschung eines Begriffs bewirken. Das geht nur, wenn es zu einem kollektiven Handeln wird.

Inwiefern sind Sprache und Wirklichkeit miteinander verwoben?

Das ist eine sehr grosse Frage. Wie erwähnt, zeigt die Forschung, dass mit dem generischen Maskulinum mehrheitlich an Männer gedacht wird. Klar ist, dass sprachliche Repetition einen grossen Einfluss hat auf unser Bild von Wirklichkeit. Das zeigte sich beispielsweise auch bei Studien zu Stelleninseraten eindeutig: Werden da explizit alle Geschlechtsformen angesprochen, bewerben sich auch deutlich mehr Menschen. 

Mohrenkopf soll man nicht mehr sagen. Was bringen Verbote von bestimmten Begriffen?

Grundsätzlich bringen Verbote wenig – sie wären auch kaum zu kontrollieren. Richtig ist aber sicher, dass rassistische Begriffe verboten sind und die Verwendung geahndet wird. Als kleine Gruppe aber kann man nicht die Löschung eines Begriffs bewirken. Das geht nur, wenn es zu einem kollektiven Handeln wird. Das sehen wir etwa bei «Fräulein»: Noch vor nicht langer Zeit war das gängig – heute ist es praktisch verschwunden. Ganz ohne Befehl. Sprache ist immer verbunden mit gesellschaftlichen Werten.

Sprache und Identität hängen sehr nah zusammen, in beide Richtungen.

Was sind Alternativen zum Verbannen?

Wichtig ist vor allem, dass linguistisch informiert ist, wer über Konsequenzen des Sprachgebrauchs diskutiert. Und das sollte meines Erachtens so sachlich wie möglich erfolgen. Schwierig finde ich, wenn Gruppen anderen etwas vorschreiben wollen. Alle sollten aber für sich selbst abwägen und entscheiden. Man kann den Gender-Stern unschön finden – sollte sich aber der Wirkung der Sprache bewusst sein. 

Und was tun mit politisch gezielt eingesetzten Begriffen wie beispielsweise «Flüchtlingsströme»?

Solche Metaphern, wie sie bei Flüchtlingsthemen besonders häufig zum Einsatz kommen, sollten wir nicht einfach negieren – das bringt nichts. Hier finde ich besonders wichtig, dass schon in der Schule der politische Sprachgebrauch zum Thema wird. Ausserdem sollten solche Begriffe im öffentlichen Diskurs als problematisch benannt und wenn möglich durch andere ersetzt werden. 

Warum sind denn die Empörungen in Diskussionen um den Sprachgebrauch teils so heftig?

Es geht hier um die jeweils persönlichen Vorstellungen von Geschlechtern. Und Sprache und Identität hängen sehr nah zusammen, in beide Richtungen. Wenn wir nun das Gefühl haben, es werde uns persönlich etwas vorgeschrieben, dann empfinden wir das als gewaltvollen Akt.