Manchen drängt sich ausgerechnet beim Beten oder bei der Teilnahme an einem Gottesdienst innerlich ein gotteslästerlicher Fluch auf. Andere sehen in jeder alltäglichen Zufälligkeit ein göttliches Zeichen, über dessen Bedeutung sie stundenlang und angstvoll nachgrübeln. Wieder andere möchten in der Bibel lesen, getrauen sich aber nicht, das «heilige Buch» zu berühren – aus Angst, sie könnten es verunreinigen und sich dadurch versündigen.
Diesen Menschen gemeinsam ist: Sie leiden unter einer besonderen Form von Zwangsstörung, nämlich an religiösen Zwangsgedanken oder -vorstellungen. Diese Störung wird von den Betroffenen selbst als solche klar erkannt und benannt. Ihnen ist bewusst, dass es widersinnig ist, was sie denken oder tun. Dennoch können sie sich den Zwängen nicht entziehen, denn diese haben eine überaus starke Eigendynamik und üben auf die Leidenden grossen Druck aus, dem schwer oder gar nicht standzuhalten ist.
Er ist nicht allein
«Wer nicht selbst betroffen ist, kann es nicht verstehen; das Ganze hat von aussen betrachtet ja auch etwas sehr Irrationales», meint Frederick Gerber (Name geändert). Der Mann aus dem Bernbiet, der ruhig am Tisch sitzt und dies sagt, wirkt sehr reflektiert, gefasst und rational. Diese Eigenschaften schützen ihn aber nicht davor, religiöse Zwangsgedanken zu haben. Er ist überzeugt, mit seinem Leiden bei Weitem nicht der Einzige zu sein. «Zwangsgedanken, aber auch Zwangshandlungen sind vermutlich ein ziemlich verbreitetes Phänomen, und die religiöse Ausprägung davon ist sicher auch häufig anzutreffen», sagt er.
Er selbst ist nicht in einer besonders kirchlich orientierten Familie aufgewachsen, fühlte sich aber schon als Kind dem Religiösen sehr nahe. «Ich war ein frommer Knabe», sagt er. Umso mehr bedrückte es ihn, als sich bei ihm irgendwann religiöse Zwangsgedanken einzustellen begannen. «Diese äussern sich bei mir in negativen, scheinbar ‹lästerlichen› Gedanken über Gott und insbesondere über den Heiligen Geist», berichtet er. In Gedanken wie «Gott ist verflucht» oder «Der Heilige Geist ist ein Halunke». Derlei erschrecke und bedrücke einen zutiefst. «Man verurteilt sich selbst und bekommt Angst, von Gott für seine schlechten Gedanken bestraft beziehungsweise verlassen zu werden.»
Bekämpfen ist schwierig
Meist versuchen Betroffene, solche Gedanken möglichst zu vermeiden und fernzuhalten, was diese aber nur umso beharrlicher aufkommen lässt und sogar noch verstärkt. «Hinzu gesellen sich Anspannung, Angst, depressive Verstimmung und andere schlechten Gefühle; das ist zeitaufwendig und psychisch belastend», führt Frederick Gerber aus. Gerade auch mit Blick auf den Glauben. «Plötzlich fragte ich mich: Wäre alles nicht einfacher ohne Glauben?» Dennoch wolle er aber klar am Glauben festhalten, seine Beziehung zu Gott sei ihm wichtig.
Vorlesen, meditieren
Im Lauf der Jahre hat er Strategien entwickelt, die es ihm ermöglichen, mit seinen Zwangsgedanken zu leben – manchmal besser, manchmal auch etwas weniger gut. So hilft es ihm zum Beispiel, seine Veranlagung als Marotte seines Gehirns zu begreifen, die nichts mit Gott und Glauben zu tun hat. Manchmal bringt er seine aufdringlichen Gedanken zu Papier und liest sie sich vor. Auch eine Art Meditation tut ihm gut: das Zulassen von unangenehmen Gedanken und Gefühlen, ohne diese zu werten.