Recherche 30. März 2018, von Tilmann Zuber

Mehr als ein Sorry

Theologie

Karfreitag steht im Zeichen von Schuld und Versöhnung. Pfarrer Achim Kuhn bemängelt, dass wir uns zu oft durchsetzen müssen und kaum lernen, uns zu versöhnen.

Versöhnung setzt voraus, dass man sich schuldig fühlt. Heute haben die meisten das Gefühl, dass sie mehr oder weniger o.k. sind. Da reicht doch ein kurzes Sorry.

Achim Kuhn: Die Hetze des Alltags und die Oberflächlichkeit führen dazu, dass wir nicht mehr über unser Leben nachdenken, sondern funktionieren. Sich schuldig zu fühlen, ist da hinderlich. Der Psychiater Daniel Hell erklärt, dass die Scham die Schuld heute verdrängt hat. Man schämt sich, entschuldigt sich, damit die Öffentlichkeit zufrieden ist, und macht weiter. Schuldgefühle setzen Reue voraus und führen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Andererseits sind wir an allem schuld: an der Klimaerwärmung, der Umweltverschmutzung, an der bedrohten AHV, weil wir länger leben.

Ja. Die Überfülle an moralischen Appellen macht die Leute lethargisch. Sie verallgemeinern ihre Fehltritte und ziehen sich in die private Unschuld zurück. Sie sagen, als Einzelner kann ich nichts machen – wie oft ich im Jahr fliege, spielt eh keine Rolle mehr. Im Moment ändert sich das: Mehr und mehr Leute übernehmen Verantwortung und ändern ihren Lebensstil, so dass sie sich mit der Umwelt und der Natur versöhnen.

Sie sind Seelsorger. Wie stark leiden Menschen unter ihrer Schuld?

Kürzlich sprach ich mit einem Mann, der schwer erkrankt war. Er fragte, ob seine Krankheit die Strafe Gottes sei, weil er Schuld in seinem Leben auf sich geladen hatte. Natürlich sage ich als Theologe: nein, Gott ist nicht ein Gott des Strafens, sondern der Liebe. Trotzdem sollte man darüber nachdenken, wie sehr zwischen der jetzigen Situation und der Schuld ein Zusammenhang besteht.

Arbeiten Sie in der Seelsorge auf die Versöhnung hin?

Wir überlegen gemeinsam, welche Ansatzpunkte und Wege möglich sind. Manchmal ist der andere, etwa die Eltern, inzwischen verstorben. Auch da ist es entlastend, ein Wort der Versöhnung auszusprechen, auch wenn es der andere nicht hört. Versöhnung hat auch mit einem selber zu tun.

Etwa im Gebet?

Oder in der Meditation und Einkehr.

Katholiken können ihre Vergehen dem Priester beichten und so ihre Schuld abladen. Reformierte nicht. Empfinden Sie dies als Mangel?

Ja, da haben uns die Katholiken und Lutheraner etwas voraus. Für viele wäre die Beichte eine Hilfe. Viele wünschen sich, dass man sie von ihrer Schuld freispricht und sie neu anfangen dürfen.

Sie haben mehrere Krimis veröffentlicht. Warum geschehen Verbrechen? Ist der Mensch von Natur aus schlecht oder macht ihn die Umwelt dazu?

Ich gehe davon aus, dass der Mensch im Grunde gut ist, aber vom Bösen bedroht ist. Es gibt niemanden, der sich nicht ein Verbrechen vorstellen kann, und dies auch tun könnte. Zum Glück sind die inneren Hemmungen meist gross genug, um dies zu verhindern. Im Internet werden die Hemmungen kleiner, man beleidigt andere und versteckt sich in der Anonymität des Webs.

Worauf beruhen diese Hemmungen?

Auf Werten, Humanitas oder einfach auf dem Gewissen. Als Christ habe ich die Hoffnung, dass Gott unser Gewissen erreicht, so dass wir lebensfreundlicher werden.

In der katholischen Kirche gibt es die sieben Todsünden. Ergibt dies Sinn?

Diese klaren Vorgaben können ein grosser Vorteil sein. Im Laufe seines Lebens lädt jeder Schuld auf sich. Die Kategorisierung dieser Fehlschritte hilft, Lösungen zu finden, um aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Wir Reformierten, die selber denken, wie wir stolz betonen, müssen eigene Lösungen für unsere Probleme finden. Das ist anspruchsvoll und überfordert bald einmal.

In den Karfreitagsgottesdiensten stehen Schuld und Versöhnung im Zentrum Warum?

Als Christen glauben wir, dass wir durch den Tod und die Auferstehung Jesu die Schuld bei Gott abladen dürfen und frei werden, einen Neuanfang im Guten zu machen. Wenn mehr Menschen dies als Chance erkennen, würde dies unser Zusammenleben positiv prägen. Wir müssten unsere Schuld nicht länger verdrängen und auf andere projizieren. Unsere Gesellschaft bräuchte keine Sündenböcke, die sie vernichtet, im Glauben sie sei damit zugleich ihre Schuld und Verantwortung los.

Wer sind die Sündenböcke?

Asylbewerber, sozial Randständige, bestimmte Parteien und manchmal die Kirche.

Am Karfreitag wird gepredigt, Christus sei für unsere Sünden gestorben. Was heisst das konkret?

Im Laufe unseres Lebens verstricken wir uns in Schuld. Wir beleidigen und verletzen andere, wie auch andere uns Unrecht antun. Wir tragen den anderen diese Schuld nach, werden nachtragend und unfrei. Das Evangelium schenkt uns die Chance, uns unserer Schuld bewusst zu werden, zu bereuen und mit Gott neu anzufangen.

Karfreitag und Ostern steht für diese Zusage?

Ja, das Evangelium bietet eine neue Lebensperspektive: So wie Gott neu mit mir anfängt, kann ich mit anderen neu anfangen

.… und gelange zum Jesuswort, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, so halte die linke hin. Ist dies nicht eine unrealistische Überforderung?

Was ist die Alternative? Zahn um Zahn? Auge um Auge, sodass zuletzt beide blind sind? Die Aufforderung, die andere Backe hinzuhalten, durchbricht den Kreislauf der Vergeltung. Sie kann den Konflikt in die Richtung der Versöhnung lenken. Versöhnung braucht Mut, denn man entblösst sich und wird verletzlich.

Im Alltag geschieht dies eher selten.

Es fehlen die Vorbilder. Schule und Beruf trimmen uns zu Rechthaberei. Permanent müssen wir uns behaupten und durchsetzen. Das ist grundsätzlich richtig. Geschieht dies aber ausschliesslich, schränken wir das Lebensrecht der anderen ein. Ein versöhnlicher Lebensstil anerkennt das Existenzrecht der anderen. Für die Zukunft der Welt, unserer Gesellschaft und im eigenen Leben braucht es Versöhnung.

Zurück zur Gegenwart: Versöhnung spielt in der Politik eine untergeordnete Rolle, gerade wenn man an Donald Trump, Putin und Assad denkt.

Für mich, der ursprünglich aus Deutschland stammt, hat Versöhnung eine besondere politische Bedeutung. Ich bin froh, dass das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, das über Jahrhunderte von Schuld belastet war, heute entspannt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg reichten sich beide Seiten die Hände. Eine meiner Schwestern hat einen Franzosen geheiratet, eine andere lebt im französisch-sprachigen Brüssel. Die Versöhnung wirkt bis in die Familien hinein.

Achim Kuhn

Achim Kuhn ist Pfarrer in Männedorf. Daneben schreibt er Kriminalromane zu ethischen Themen und ist Herausgeber von verschiedenen Büchern, unter anderem «Kann ich damit leben?», Prominente über Konflikt und Versöhnung, erschienen 2017 im Theologischen Verlag Zürich.