Recherche 24. August 2021, von Nadja Ehrbar

Die seelischen Wunden sind noch lange nicht verheilt

Flutkatastrophe

Die Flutkatastrophe in Deutschland erinnert an den Bergsturz von Bondo im Jahr 2017. Pfarrer Thorsten Latzel aus dem Rheinland und Nadia Crüzer aus Graubünden berichten. 

Zerstörte Dörfer, Strassen und Brücken, über 150 Tote und zahlreiche Vermisste: Die schlimmen Bilder der Flutkatastrophe im deutschen Westen haben bei Nadia Crüzer Erinnerungen geweckt. «Als es passierte, machte ich mir Sorgen um die Menschen, die alles verloren haben», sagt die reformierte Kirchgemeindepräsidentin im Bergell. «Ich kann nicht sagen, dass ich froh darüber war, dass wir diesmal verschont geblieben sind.» 

Vor vier Jahren ereignete sich im 200-Einwohner-Dorf Bondo die vorläufig letzte grosse Naturkatastrophe der Schweiz. Drei Millionen Kubikmeter Gestein lösten sich damals vom Piz Cengalo und donnerten ins Bondascatal. Acht Wanderer starben. Mehrere Murgänge überfluteten Häuser, Strassen und Brücken oder rissen sie weg. Rund 140 Einwohner wurden evakuiert. Während fast zweier Monate konnten sie nicht zurückkehren. 

Nadia Crüzer erinnert sich, wie die Kirchgemeinde den Leuten beistand. Pfarrerin Simona Rauch besuchte die Menschen, führte verstreute Familien zusammen, hielt in der vom Unglück verschont gebliebenen Kirche Gottesdienste ab. Mit den erhaltenen Spenden kaufte Crüzer Lebensmittelgutscheine, die sie dann verteilte.

Schweigen ist keine Lösung.
Thorsten Latzel, Präses Evangelische Kirche Rheinland

In Deutschland reiste Thorsten Latzel wenige Tage nach den Überschwemmungen in die betroffenen Orte. Was der Präses, der leitende Pfarrer des Rheinlands, zu sehen bekam, hat ihn tief bewegt. Im Gespräch mit «reformiert.» sucht er nach Worten für das Ausmass der Zerstörung. Von seinen Begegnungen berichtete er im Internet, und er versuchte, über die sozialen Medien Trost zu spenden. «Schweigen ist keine Lösung», sagt er. 

Jenen Menschen, die alles verloren haben, hörte er zu, als sie ihre Geschichten erzählten, und litt mit. «Dabei ging es nicht darum, theoretische Schreibtischspekulationen über Gottes Gericht anzustellen», sagt er. «Sondern darum, den Klagen über den Verlust sowie dem Dank für die Solidarität Raum und Ausdruck zu geben.» Und das durchaus auch in jenen kirchlichen Räumen, die von der Flut verschont geblieben sind.

In der ganzen Verzweiflung erlebte Latzel auch viel Solidarität. Er erhielt Briefe von anderen Kirchen, ebenso zahlreiche Spenden aus dem In- und Ausland. Er berichtet von Helferinnen und Helfern, die mit Schaufeln anreisten und Keller vom Schlamm befreiten. Oder von jungen Menschen, die in einer Partyhalle in Euskirchen ein Notfallzentrum einrichteten und dort mehrere Hundert Menschen unterbrachten. «Das war tief berührend», sagt er. «Hier zeigt sich für mich, wie Gott gegenwärtig ist.»

Noch sind die Aufräumarbeiten im Gang. Die Einsatzkräfte der Feuerwehr, Hilfsorganisationen, von Zivil- und Katastrophenschutz, Polizei und Bundeswehr werden aber allmählich abgezogen. Finanzielle Hilfe in der Höhe von 30 Milliarden Euro seitens des Bundes und der Länder ist zugesichert.

Die Katastrophe hat sich bei den Menschen tief eingegraben. Sie sind erschöpft, viele brauchen professionelle Begleitung.
Thorsten Latzel, Präses Evangelische Kirche Rheinland

Doch bis die seelischen Wunden verheilt sind, wird es noch lange dauern. «Die Katastrophe hat sich bei den Menschen tief eingegraben», sagt der Präses. Die Leute seien erschöpft, erst recht nach über einem Jahr Corona-Pandemie. Viele bräuchten nun auch professionelle Traumabegleitung, um das Erlebte zu verarbeiten. 

Die Arbeit der Kirchen in den Gemeinden geht weiter. «Wir dürfen die Menschen nicht vergessen und sie vor allem nicht allein lassen.» Pfarrpersonen unterstützen die Betroffenen seelsorgerlich und bieten rituelle Trauerbegleitungen an. Sie helfen aber auch bei ganz konkreten Fragen wie etwa jener nach einer Kinderbetreuung oder nach der Zukunft des eigenen Hauses.

Normalität eingekehrt

In Bondo zeigt Kirchgemeindepräsidentin Nadia Crüzer auf einem Dorfrundgang auf Stellen, wo zuvor Häuser standen oder eine Brücke über das Flüsschen Bondasca führte. Hohe Steinwälle entlang des Flusses erinnern noch an das Unglück. Im Dorf selbst ist längst wieder Normalität eingekehrt. 

Und bei den Menschen? Annelise Picenoni wohnt wenige Meter vom Fluss entfernt, entlang dessen sich das Gemisch aus Wasser und Geröll durchs Tal zum Dorf schob. Die Katastrophe sei für sie glimpflich verlaufen, erzählt sie. «Ich hatte nur etwas Schutt im Haus.» Angst, dass sich das Unglück wiederholen könnte, hat sie nicht, «aber Respekt». Sie vertraue auf Gott und die vorgesehenen Schutzbauten. Für 42 Millionen Franken werden ab Herbst unter anderem Strassen erhöht, das Auffangbecken vergrössert sowie neue Brücken gebaut.

Die Normalität und der Alltag geben den Leuten Halt.
Nadia Crüzer, Kirchgemeindepräsidentin Bondo

Im Vergleich zu Deutschland war in Bondo vieles anders. Die Einwohner waren gewarnt, sie konnten ihre Häuser rechtzeitig verlassen. So hatten sie aus dem Dorf selber keine Toten zu beklagen. Nur wenige Familien mussten umziehen oder ihr Haus woanders aufbauen. «Die Leute hier brauchen keinen Psychologen», meint der Bergeller Arzt Hans Bänninger. Und Nadia Crüzer ergänzt: «Die Normalität und der Alltag geben den Leuten Halt.» Sie lebten mit den regelmässigen Bergstürzen. Der Piz Cengalo wird seit 2017 eng überwacht, bei Gefahr bekommen die Einwohnerinnen und Einwohner ein SMS. 

Etwas aber würde Nadia Crüzer im Nachhinein anders machen. An eine Andacht für die verunglückten Wanderer würde sie nicht nur deren Angehörige, sondern das ganze Dorf einladen. Damit die Gemeinschaft offiziell Anteil nehmen und mittrauern kann.