Recherche 01. Juni 2023, von Sandra Hohendahl-Tesch, Cornelia Krause

Nicht selten werden Familien zerrissen

Verschwörungstheorie

Weshalb der Glaube an ritu­ellen Missbrauch besonders fatale Folgen hat, erklärt der Religionsexperte Georg Schmid.

Seit wann ist das Thema rituelle Gewalt auf Ihrem Radar?

Georg Schmid: Ich bin damit seit Beginn meiner Arbeit bei Relinfo 1993 konfrontiert. Ursprünglich kommt Satanic Panic aus den USA, dort war sie in den 80er-Jahren verbreitet.

Mit dem Bericht des SRF 2021 erhielt das Thema viel Aufmerksamkeit. Haben Sie oft damit zu tun?

Das ist schwierig zu sagen, aber über die Jahre haben wir sicher einige Dutzend Anfragen von Angehörigen oder vermeintlichen Opfern erhalten. Nach dem Bericht des Schweizer Fernsehens haben sich viele Menschen gemeldet, und die Reaktionen waren heftiger und negativer als üblich. Die Logik der Kritiker: Wer sich den Hexenjägern in den Weg stellt, muss selbst eine Hexe sein. Es gibt in der Schweiz ein Milieu von Menschen, die mit rituellem Missbrauch rechnen und sehr offensiv ihre Weltanschauung vertreten.

Wie gefährlich ist diese Strömung?

Unter den Verschwörungstheorien ist sie eine der folgenreichsten, denn sie wirkt sich stark auf das Zusammenleben aus. Behauptet jemand, Kondensstreifen am Himmel seien Chemikalien, nervt das vielleicht, aber es hat keine grossen Konsequenzen. Glauben Menschen, sie seien Opfer von ritueller Gewalt, reisst das nicht selten ganze Familien auseinander, weil die vermeintlichen Täter oft im Umfeld gesucht werden. Wenn den Betroffenen falsche Erinnerungen eingeredet werden, ist das aus traumatherapeutischer Sicht hochproblematisch.

Kirchliche und säkulare Stellen liessen sich darauf ein, luden Referenten zu Vorträgen, rezensierten Bücher. Wie kommt das?

Man war nicht gut informiert. Das Thema schockierte, aber es gab ja angeblich viele Berichte von vermeintlich Betroffenen, also musste es stimmen, so die Argumentation.

Tut man sich nicht auch schwer damit, die Geschichten angeblicher Opfer infrage zu stellen?

Natürlich. Zumal es Misshandlungen von Kindern gibt, auch in organisierten Netzwerken. Damit argumentieren Cara-Vertreter: Es gibt systematischen Missbrauch von Kindern, deshalb muss es auch den rituellen Missbrauch geben. Aber während systematischer Missbrauch immer wieder nachgewiesen und vor Gerichten verhandelt wird und zu Urteilen führt, gibt es keine Beweise für rituellen Missbrauch.

Hat sich die Szene, die sich mit rituellem Missbrauch beschäftigt, seit dem grossen Interesse der Medien verändert?

Im deutschsprachigen Raum gab es einen intensiven fachlichen Diskurs. Im Bereich der Psychiatrie, auch bei Opferhilfestellen. In Deutschland wurde die Stelle für rituellen Missbrauch des Bistums Münster abgeschafft. Und auch der Verein Cara scheint weniger aktiv, zumindest nach aussen hin. Gleichzeitig interessieren sich die Sekte Organische Christus-Generation und ihr Sender Kla.TV vermehrt dafür. Letzterer ist eine bekannte Plattform für Verschwörungstheorien. Fachkreise ziehen sich zunehmend zurück, Verschwörungstheoretiker nehmen sich des Themas an: Somit ist es nun dort angekommen, wo es tatsächlich hingehört. Interview: Cornelia Krause, Sandra Hohendahl-Tesch

Georg Otto Schmid ist Leiter der Evangelischen Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen (Relinfo).