Sie befassen sich seit über 50 Jahren mit der arabischen Kultur und Islamwissenschaften. Was ist für Sie das Faszinierendste daran?
Reinhard Schulze: Immer wieder glaubt man, etwas «Fremdes» erkannt und erforscht zu haben – und dann stellt sich heraus, dass es nicht nur eine Ähnlichkeit mit dem Eigenen gibt, sondern dass man sich letztlich im Spiegel der Andersartigkeit selbst erkennen kann. Oder anders gesagt: Der Nahe Osten ist eng mit unseren eigenen Welten verwoben: Das finde ich besonders faszinierend an der Beschäftigung mit den politischen, sozialen und kulturellen Welten dort.
Ganz das Gleiche ist es ja aber nicht. Erleben Sie dabei auch einen Perspektivenwechsel?
Ja, faszinierend ist es durchaus auch, die Welt von einem anderen Beobachterstandpunkt aus zu sehen, statt aus der gewohnten europäischen Perspektive, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind. Und schliesslich ist da noch die spannende Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Wissenswelten und Religionen und ihrer historischen Entwicklungen, in denen Menschen ihrer Welt begegnen und ihr Sinn geben.
Die Welt hat sich ziemlich verändert in 50 Jahren. Was haben Sie im Nahen Osten beobachtet?
Da ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben; es gab einen tiefgreifenden kulturellen, politischen und sozialen Wandel. Dieser hat im Kern eine ähnliche Dimension wie der, den auch die europäisch-westliche Welt erlebt hat, mit Säkularisierung, Entkirchlichung des Lebens, Migration und Globalisierung. Doch die Entwicklungslinien verlaufen unterschiedlich.
Inwiefern?
In Europa erleben wir Säkularisierung und Globalisierung vor allem als Prozess der Verdrängung des Religiösen, gewissermassen als Altlast der Gesellschaft. In der nahöstlichen Welt hat sich vor 50 Jahren die Religion dagegen in besonderer Weise in die Gesellschaft eingeschrieben: Sie wurde zum Sprachrohr einer neuen Säkularität, die sie für ein oder zwei Generationen zu einer festen gesellschaftlichen Institution werden liess. Heute erleben wir nun, wie auch in der nahöstlichen Welt die Religion aus der säkularen Ordnung verdrängt wird. Für viele Menschen, gleich welcher Religion sie sich zugehörig fühlen, entsteht dadurch eine sehr persönliche Form von Religiosität.