«Wir bleiben eine Hoffnungsgemeinschaft»

Kirchenpolitik

Die Theologin Sabrina Müller steigt für die Liberalen ins Rennen um das Zürcher Kirchenratspräsidium. Im Gespräch mit «reformiert.» sagt sie, warum sie in die Kirchenpolitik will.

Weshalb wollen Sie Kirchenratspräsidentin werden?

Sabrina Müller: Weil ich an die Zukunft dieser Kirche glaube. Ich möchte sie zusammen mit den Menschen prägen und weiterentwickeln. In meiner Forschung habe ich mich stark damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, gemeinsam Kirche zu sein. Wir müssen das Allgemeine Priestertum neu entdecken und stärken. Das bedeutet nicht, dass Pfarrpersonen weniger wichtig werden, ihre akademische Ausbildung bleibt zentral. Aber sie müssen vermehrt zu theologischen Mentorinnen und Mentoren, zu Coaches werden.

Und warum können Sie nicht noch ein bisschen warten? Michel Müller tritt wieder zur Wahl an, den Amtsinhaber herauszufordern, ist ungewöhnlich.

Es braucht jetzt einen Generationenwechsel. Zuletzt stand die Anpassung der Strukturen im Zentrum, da war Stabilität wichtig. Michel Müller hat in diesem Bereich wichtige Arbeit geleistet. Doch nun gilt es, wieder vermehrt auf die Inhalte, die Theologie zu fokussieren. Der Blick von aussen, den ich mitbringe, ist da hilfreich. Ich arbeite seit 13 Jahren zu Innovation und Kirchenentwicklung. Diese Erfahrungen kann ich einbringen. Wir müssen uns jetzt überlegen, wie die Kirche in 20, 30 Jahren aussehen soll.

Sabrina Müller

Sabrina Müller (*1980) ist Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Seit zwei Jahren ist sie Geschäftsleiterin des Forschungsschwerpunkts Digital Religion(s) und leitet das Projekt «Hermeneutische Dynamiken individueller und gemeinschaftlicher christlich-religiöser Sinnstiftung in einer Kultur der Digitalität». Zuvor war sie sechs Jahre lang Pfarrerin in Bäretswil im Zürcher Oberland. Daneben schrieb sie ihre Doktorarbeit und wechselte 2015 in die Forschung an der Universität Zürich. Vor zwei Jahren schloss sie ihre Habilitation ab. Ab 2019 hatte sie für zwei Jahre die Geschäftsführung des Zentrums für Kirchenentwicklung übernommen. Die Liberale Fraktion hat Sabrina Müller für die Wahlen für das Kirchenratspräsidium der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich nominiert. Zur Wahl treten auch Amtsinhaber Michel Müller vom Synodalverein sowie Kirchenrätin Esther Straub von der Religiös-sozialen Fraktion an.

Was wird diese Kirche mehr sein als ärmer, älter und kleiner?

Ich will weg von diesem Narrativ. Ich bin durch meine Arbeit nicht hoffnungsloser geworden. Im Gegenteil. Natürlich wird die Kirche sich verändern und sich wohl stückweise von ihrer Staatsnähe verabschieden müssen. Aber wir sollten nicht allein auf die Mitgliederzahlen schauen. Als Kirche bleiben wir immer eine Hoffnungsgemeinschaft. Und noch hat die Kirche sehr grosse finanzielle Ressourcen. Um diesen Spielraum für Reformen zu nutzen und die Kirche zukunftsfähig zu machen, braucht es eine langfristige Finanzstrategie.

Wenn sich die Kirche vom Staat lösen muss, soll sie sich dann vermehrt auf sich zurückziehen und in erster Linie für ihre Mitglieder da sein?

Nein. Weniger Staatsnähe bedeutet nicht den Rückzug auf sich selbst. Die Entwicklung, dass das Christentum nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft ist, lässt sich nicht aufhalten. Aber das heisst eben gerade nicht, dass die Kirche nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft sein soll. Die Kirche kann gesellschaftlich relevant bleiben, wenn es ihr gelingt, in Wort und Tat für das Evangelium einzustehen. 

In der Medienmitteilung zu Ihrer Nomination lassen Sie sich zitieren, dass die Kirche Partnerin sein soll für ganz unterschiedliche Menschen. Die Kirche versteht sich doch eigentlich als Gemeinschaft und nicht als Partnerin. 

Wir brauchen unterschiedliche Kirchenbilder. Kirche sein als Gemeinde, das müssen wir bewahren. Doch der Gemeinschaftsbegriff schreckt viele Menschen ab. Für sie müssen wir als Kirche zur Dialogpartnerin werden, die sie nicht vergemeinschaften oder vereinnahmen will, aber sich für sie ehrlich interessiert und sie partizipieren lässt. Auch mit Institutionen gilt es das Gespräch und die Zusammenarbeit zu suchen, ob in der Diakonie oder in der Bewältigung der Klimakrise.

Die Strukturreform des Kirchenrats setzte auf Fusionen. Eine Erfolgsgeschichte?

Da bin ich zu sehr Forscherin, um diese Frage jetzt schon zu beantworten. Der Reformprozess muss sauber evaluiert werden. Ich sehe Vorteile von Fusionen, etwa die Bündelung von Kompetenzen oder die bessere Ausnutzung der Infrastruktur. Gleichzeitig höre ich aus fusionierten Gemeinden, wie das Konfliktpotenzial zugenommen hat und durch die Fokussierung auf Strukturen inhaltliche Diskussionen und die praktische Arbeit in den Hintergrund getreten sind. Jedenfalls gilt es, die Mitbestimmung und die Gestaltungsräume für die Mitarbeitenden zu bewahren oder gar zu erweitern. Ohnehin müssen wir den kirchlichen Mitarbeitenden extrem Sorge tragen. Sie brauchen die Unterstützung und Wertschätzung der Landeskirche. 

Sie ziehen die Kirchenpolitik der akademischen Karriere vor. Warum?

Mich interessierte schon immer das Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Meine Forschung war stets nahe am kirchlichen Leben, und ich hatte den Anspruch, im wissenschaftlichen Kontext verständlich zu kommunizieren, damit die Forschungsergebnisse einen praktischen Nutzen haben. Ich habe zahlreiche Kirchgemeinden in Deutschland, Österreich und in der Schweiz beraten. Auch das Amt als Kirchenratspräsidentin zeichnet sich durch die Verbindung zwischen Theorie und Praxis aus. Ich kandidiere klar als Theologin und will diese Kompetenzen einbringen. 

Sie wurden von der Liberalen Fraktion nominiert. Sind Sie eine liberale Theologin?

Ja. 

Das Gemeindepfarramt in Bäretswil im Zürcher Oberland und das Vorstandsmandat bei den freikirchlich geprägten ERF-Medien deuten nicht darauf hin. 

Ich bin im frommen Gossau aufgewachsen. Das ist meine Herkunft. Ich kenne die unterschiedlichen Glaubenssprachen. Meine Theologie ist heute liberal. Ich bekam bereits in Bäretswil oft sehr gute Rückmeldungen, wenn ich in meinen Predigten einen Bibeltext auch einmal aus feministischer Perspektive ausgelegt habe, ohne es vielleicht so zu benennen. Die ERF-Medien habe ich gefragt, ob sie wirklich eine liberale Theologin im Vorstand wollen. Ich bringe da eindeutig eine andere Perspektive ein, und das ist offensichtlich erwünscht. Mir ist es ein zentrales Anliegen Brücken zu bauen zwischen Theologien und Glaubenssprachen.

Der Kanton Zürich ist ein religiös pluraler Kanton, in dem die Landeskirchen grosse Minderheiten sind. Was bedeutet das für die reformierte Kirche?

Dass die Ökumene und der interreligiöse Dialog an Bedeutung gewinnen. Die Menschen selbst sind fluid zwischen den Konfessionen, zuweilen sogar zwischen den Religionen unterwegs. Zwischen den Institutionen gibt es noch immer klare Unterschiede. Wir haben viele Gemeinsamkeiten mit der katholischen Kirche, aber noch immer keine Abendmahlsgemeinschaft. Die Ökumene und der interreligiöse Dialog gelingen nur dann, wenn wir uns als Reformierte der eigenen Identität bewusst sind. Dann können wir selbstbewusst und zugleich offen und wertschätzend auf andere Konfessionen und Religionen zugehen. Auch das Gespräch mit den orthodoxen Glaubensgemeinschaften oder den Freikirchen müssen wir trotz theologischer Differenzen vermehrt suchen.