Recherche 28. August 2018, von Nicola Mohler

Tastend die Welt begreifen

Schöpfungszeit

Die blinde Radiojournalistin Yvonn Scherrer macht sich dafür stark, dass auch Sehende vermehrt ihren Tastsinn einsetzen.

Vom 1. September bis zum 4. Oktober, dem Gedenktag des Franziskus von Assisi, dauert im Kirchenjahr die Schöpfungszeit. Der ökumenische Verein «Oeku Kirche und Umwelt» stellt unter dem Motto «Taste, fühle, begreife» heuer den Tastsinn in den Mittelpunkt der Wochen, die sich der Schöpfung Gottes widmen. Damit wird die Reihe der fünf Sinne weitergeführt; in den letzten beiden Jahren standen der Geruchs- und der Hörsinn im Zentrum. Eine besondere Affinität zum Tastsinn hat Yvonn Scherrer, die seit ihrer Kindheit blind ist.

Sie plädieren dafür, dass sehende Menschen sich vermehrt auf rücksichtsvolle Weise berühren.

Yvonn Scherrer: Ich realisiere, dass viele sehende Menschen ihre Hände nicht mehr zu nutzen wissen. Oft packen Menschen grob an. Durch den täglichen Gebrauch von Tastatur und Computermaus oder durch das Wischen über Smartphone oder Tablet verlieren wir das Gespür für feine Berührungen. Dabei sind gerade diese Berührungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen von grosser Bedeutung – sie machen uns lebendig. Eine Umarmung unterstützt einen traurigen Menschen mehr als jedes tröstende Wort. Auch teilt sich Freude mit Berührungen schöner. Doch wir leben in einer sexualisierten Gesellschaft, in der zudem der Sehsinn dominiert. Da schrecken viele vor feinen zugewandten Berührungen zurück oder sind sich diese nicht gewohnt.

Wie wichtig ist der Tastsinn in Ihrem Alltag?

Wir blinden Menschen setzen Nase, Ohr und Hände viel stärker ein als sehende Personen. Mit meinen Händen erlebe und begreife ich meine Umwelt, mache mir ein Bild von Orten und Objekten. Und natürlich lese ich mit den Händen die Blindenschrift.

Wie gehen Sie beim Ertasten Ihrer Umwelt vor?

Einerseits setze ich die Hände ein. Mit den Fingerspitzen begreife ich die Details und erkenne Strukturen. Die Handflächen benütze ich, um ein Objekt als Ganzes zu erfassen, wie es sich im Raum präsentiert. Auch mit den Füssen spüre ich die Umgebung; ich fühle Hindernisse und erkenne die Beschaffenheit des Bodens. Durch die Schuhsohle hindurch scanne ich die Unterlage.

Welche Rolle spielt der Körper?

Mit meinem Körper nehme ich Schwingungen von Objekten oder anderen Personen wahr – eine Mischung aus Hören und Spüren über die eigene Körperwahrnehmung. Jeder Körper hat eine Frequenz und gibt Schwingungen ab. Das mag für manchen esoterisch klingen, doch ich spüre das – sei es bei der Betrachtung eines Baumes oder im Kontakt mit Menschen und Tieren.

Bei welchen Tasterlebnissen er­fahren Sie die göttliche Schöpfung besonders intensiv?

Wunderbar anzufassen sind Feldfrüchte oder Früchte von Bäumen. Ich liebe es, meine Hand in einen Sack voller Korn zu stecken. Nüsse bieten viele verschiedene Formen und Oberflächen. Haptische Hochgenüsse. Die Vorstellung, dass Gott uns Menschen mit seinen Händen aus Lehm geknetet hat, finde ich wunderbar. Denn er bestätigt sich als Künstler.

www.schoepfungszeit.ch

Yvonn Scherrer

Die seit ihrer Kindheit blinde Radiojournalistin arbeitet als Senderedaktorin bei Radio SRF. Die Theologin ist zudem Aromaberaterin und schreibt Bücher auf Mundart. Ihr jüngstes Buch «Böimig – Ein Lebensbuch» sowie «Hänglisch – Ein Hand-Buch» sind auch als Hörbücher erhältlich.