In Houston das Quilten zur Kunst verfeinert
Draussen leuchtet, für Waltensburger Verhältnisse etwas zu amerikanisch, der Weihnachtsschmuck, drinnen wärmt der traditionelle Tavetscher Ofen das Wohnzimmer. Vor zwei Jahren kehrte Georgina Buschauer mit ihrem Mann ins Elternhaus nach Waltensburg zurück. Obwohl sie 35 Jahre in Kanada und den USA lebte, fühlt sie sich hier daheim. Sie ist Mitglied des Frauenvereins, des Gemischten Chors und hilft beim Seniorennachmittag. Und sie geniesst die Klassentreffen mit den ehemaligen Schulkameraden. «Wir waren elf. Eine der grössten Klassen, die es je in Waltensburg gab.»
Alle gingen fort, der Ausbildung oder Arbeit wegen. Georgina Buschauer absolvierte in Landquart ein Haushaltlehrjahr. Weil sie noch zu jung für die Ausbildung als Handarbeitslehrerin war, besuchte sie die Handelsschule in Chur. «Dann packte mich das Fernweh.» In London lernte sie Englisch und ihren Mann, einen Bündner, kennen, der als Maschinenschlosser einer internationalen Firma auf Montage arbeitete. Als die Firma ihrem Mann eine feste Stelle in Kanada anbot, zögerten sie keine Sekunde.
Schock. Mit ihren zwei Kleinkindern fand sich Georgina Buschauer «fast von einem Tag auf den andern» in der Millionenstadt Montreal in einem zwanzigstöckigen Hochhaus wieder. «Ich wusste nicht mal, was ich mit den Kindern frühstücken sollte.» Sie habe das Leben einfach angepackt. «Ein Vorteil war, dass ich die Sprache schon konnte.» Sie engagierte sich in der schulischen Kinderbetreuung und arbeitete später als Filialleiterin in der Schuhabteilung eines Kaufhauses. Die Ferien verbrachte man alle zwei Jahre in Waltensburg. «Kanada war unser Zuhause.» Aus den 4 geplanten Jahren wurden 25.
Wagnis. Dann kam der Ruf nach Houston. Ein Angebot, das Georginas Ehemann nicht ausschlagen konnte, wollte er die Karriereleiter einen Schritt höher steigen. Da die Töchter erwachsen waren, wagten sie einen Neuanfang.
Vielleicht lag es an der kargen Prärie, die sich so gänzlich von Kanadas Wäldern und Bergen unterschied, vielleicht an der Waffenvernarrtheit der Menschen – heimisch fühlten sie sich in Houston nie. Dafür entdeckte Georgina Buschauer (64) das Quilten, das Nähen von Steppdecken, eine Handarbeit, die sie bis zur Kunst verfeinerte. Zwei ihrer Werke waren in der grössten Quilt-Ausstellung Amerikas zu sehen. Nach der Pensionierung ihres Mannes kehrten sie nach Waltensburg zurück. Jedes Jahr reisen sie nach Kanada und Australien zu ihren Töchtern. «Heimzukommen war nicht schwer, weil wir mit der Heimat immer verbunden blieben.»
Dank dem Grossonkel in New York gelandet
«Wissen Sie, Rumantsch bleibt man ewig, egal, wo man lebt», sagt Jürg Martin Gabriel, 75, in breitem Züridütsch. Der gebürtige Waltensburger, der den grössten Teil seines Lebens im Aus- und Unterland zu Hause war, spricht akzentfreies Sursilvan. Den Grossteil seiner ersten fünf Lebensjahre verbrachte er in Waltensburg mit Cousins und dem Götti auf dem Bauernhof.
Traumhaft. Der Vater absolvierte eine Eisenhändlerlehre in Thusis und emigrierte nach Meilen, wo er einen Eisenhandel eröffnete. «Wie viele Immigranten innerhalb der Schweiz war er nicht überall willkommen.» Auch Jürg Martin Gabriel blieb sein Leben lang ein Heimwehbündner. Bis er das einstige Ferienhaus zu seinem festen Wohnsitz machte. «Hier ist es mir vögeliwohl.» Wie damals im Jahr 1960, als er mit dem Slogan seines amerikanischen Grossonkels im Kopf: «Young man go West!» in New York landete. «Es war fantastisch. Jeder war willkommen.» Wenn man sich «veramerikanisierte». Zunächst arbeitete er bei einem Börsenmakler an der Wall Street. Auf Reisen lernte er Land und Leute kennen. Seine Zweisprachigkeit erleichterte ihm das Erlernen weiterer Sprachen. So besuchte er an der Georgetown University in Washington die Dolmetscherschule und arbeitete für das amerikanische Aussenministerium. Dann kam der Vietnamkrieg. Als Besitzer der Greencard war Gabriel wehrpflichtig. Lieber verzichtete er darauf und tauschte diese gegen ein Studentenvisum. Er begann das Studium der Politikwissenschaft und lernte seine erste Frau kennen, die früh verstarb. Im Auftrag der schweizerischen Entwicklungshilfe baute er nach Abschluss des Studiums ein Institut für internationale Beziehungen in Kamerun auf. Wieder zu Hause, habilitierte er an der Universität St. Gallen. Ab 1995 lehrte er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH), welche ihn 2002 beurlaubte, um im Auftrag des Schweizer Aussenministeriums eine Diplomatenakademie an der Universität Malta zu führen.
Dynamisch. Seit seiner Pensionierung ist er mit seiner zweiten Frau, einer ehemaligen IKRK-Delegierten aus Savognin, wieder in Waltensburg zu Hause. Über die Jahrhunderte lebten hier immer um rund 300 Menschen, sagt er. Zwar machen die Bauern nur mehr einen Drittel der Bevölkerung aus. Ein weiteres Drittel sind Pendler mit jungen Familien und ein Drittel Pensionäre. Nicht wenige davon «Heimkehrer», die sich stark mit der Rumantschia verbunden fühlen. «Sie tragen dazu bei, dass Waltensburg kein Geisterdorf ist, sondern Teil einer dynamischen Region, der Surselva.»
Eingeladen zum Geburtstag der Königinmutter
Aluminiumkellen an der Wand, das Salatsieb unterm Spülbecken, ein Plastiktuch über dem Holztisch – in Dora Pfisters Küche hat sich nichts verändert, seit sie nach der Pensionierung ins Elternhaus zurückkehrte. Nur der Holzherd ist ausser Betrieb und dient als Abstellfläche.
Kinderlieb. Über zwanzig Jahre lebte Dora Pfister im Unterland, ein Jahr davon im Ausland. «Schon als Schülerinnen mussten wir auswärts arbeiten, um die Familie zu unterstützen.» Als Haushaltshilfe oder Kindermädchen. Sie mochte Kinder und träumte davon, als romanische Kindergärtnerin zu arbeiten. Aber zuerst wollte sie Sprachen lernen. Dora Pfister war 23 Jahre alt, als sie eine Stelle als Zimmermädchen auf der Isle of Wight antrat. Ihr gefiel es so gut, dass sie ihren dreimonatigen Aufenthalt in England verlängerte und in London in den Dienst einer vornehmen Familie trat. «Was ich hier sah, kannte ich bisher nur aus Büchern.» Zweimal bediente sie die englische Königin, Prinz Philip, Prinzessin Margaret samt Gefolgschaft, denn die Gastmutter war eine Schulfreundin der Queen. Einmal habe ihr die englische Königin beim Rüsten ihrer «Swiss fried Potatoes» zugeschaut, kleine, mit einem Kugelausstecher geformte, Kartoffelkügelchen, die sie für die Kinder zubereitete. Am meisten beeindruckte die Königin die von Dora Pfisters Grossmutter gewobene, handgenähte und -gestickte Bündner Tracht. So sehr, dass sie damit am Geburtstag der Königinmutter erscheinen sollte. «Nein konnte ich nicht sagen, aber ich hatte schreckliche Angst.» So kam es, dass Dora Pfister der Königinmutter das Geburtstagsdessert in ihrer Bündner Sonntagstracht servierte. «Sie war so begeistert, dass ich ein Schweizer Volkslied singen musste.»
Angefeindet. Zurück in der Schweiz, besuchte Dora Pfister das Seminar für romanische Kindergärtnerinnen. Es folgten elf glückliche Jahre als romanische Kindergärtnerin in Castrisch und Feldis. Bis es sie, mit 35, abermals über die Kantonsgrenze hinauszog. «Im Unterland verdiente ich mehr.» In Uster begann sie als Sachbearbeiterin in einer Maschinenfabrik und sollte beim Aufbau einer Kinderkrippe mithelfen. «Nur für drei Jahre», war ihr Plan. Aus der Krippe wurde nichts. Doch die Arbeit mit internationaler Kundschaft gefiel ihr. Sie blieb 23 Jahre. Angekommen sei sie in Uster jedoch nie. Als alleinstehende Frau, selbstständig und einen komischen Dialekt sprechend, sei sie einigen ihrer Kollegen und Kolleginnen fremd geblieben. «Ich litt unter den Anfeindungen», sagt die 83-Jährige. Heute fällt ihr das manchmal wieder ein, wenn sie in der Zeitung von Flüchtlingsströmen liest.