«Junge oder ein Mädchen?» Nach der Geburt eines Kindes hören Eltern die Frage sofort. Nicht immer ist die Antwort eindeutig. Von tausend Kindern sind laut Schätzungen ein bis zwei Neugeborene intersexuell. Sie können, anatomisch, genetisch oder hormonell weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden.
Für diese Menschen macht sich im Parlament derzeit die grüne Nationalrätin Sibel Arslan aus Basel mit einem Postulat stark. Sie will den Bundesrat beauftragen, darzulegen, welche Folgen es hätte, wenn im Personenstandsregister ein drittes Geschlecht eingeführt oder der Geschlechtseintrag weggelassen würde. Die Landesregierung empfiehlt das Postulat zur Annahme.
Eltern unter riesigem Druck
Auch die Berner EVP-Nationalräting Marianne Streiff-Feller unterstützt das Anliegen. «Ich möchte intersexuellen Menschen helfen, einen Weg zu finden, der sie nicht zwangsweise schubladisiert», sagt die christliche Politikerin. Für die Eltern solcher Kinder entstehe ein riesiger Druck, weil sie spätestens drei Tage nach der Geburt die Geburtsmeldung machen müssen.
Streiff-Feller glaubt, dass das Anliegen in christlichen Kreisen unumstritten ist. Aber: Sie müsse oft den Unterschied zwischen Intersexualität und Transgender erklären. Viele Leute wüssten nicht, dass bei Intersexuellen das Geschlecht biologisch uneindeutig ist, während es bei Transmenschen eindeutig ist, die gefühlte Geschlechtsidentität jedoch davon abweicht.
Gott überwindet Leiden
Dennoch: Laut der biblischen Schöpfungsgeschichte gibt es Mann und Frau und nichts dazwischen – oder etwa doch? Die reformierte Theologin Maria Oppermann differenziert. Die Menschheit werde in Kapitel 27 der Genesis tatsächlich als «männlich» und «weiblich» beschrieben. «Ich kann das aber so verstehen, dass das Männliche und das Weibliche in jedem von uns gemeint ist.» Die Definition bestimme jede Zeit und Kultur anders.
Die Genderspezialistin betont: Entscheidend sei, dass die Bibel von einem Gott spreche, der Leiden überwindet. «Es ist unsere christliche Pflicht, uns für Inklusion einzusetzen, wenn Menschen unter Zwangszuschreibungen leiden.» Intersexuelle dürften nicht gezwungen werden, sich zwischen «Mann» und «Frau» zu entscheiden.
Auch Evelyne Zinsstag von der IG Feministische Theologinnen sagt: «Andere Geschlechtskategorien als Mann oder Frau kommen in der Bibel nicht vor. Das bedeutet aber nicht, dass die Bibel diese Kategorien festschreibt oder heiligt.» Die Vikarin im Kanton Fribourg hat auf Anfrage von «reformiert.» mit Rahel Weber, die in Beirut (Libanon) protestantische Theologie studiert, aufgrund der Bibel über Intersexualität nachgedacht. «Biblische Texte stammen aus patriarschalischen Gesellschaften. Wir können den biblischen Kontext nicht gegen den unseren ausspielen», sagt Weber.
Für die Theologinnen ist klar, dass alle Menschen, auch intersexuelle, zur guten Schöpfung Gottes gehören. Dem schliesst sich Christoph Raedel grundsätzlich an. Der Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Giessen in Deutschland gilt als differenzierte evangelikale Stimme. In theologischen Feinheiten ist der Methodist jedoch kritischer als die beiden Theologinnen.
Natur und Schöpfung
«Intersexualität ist Teil der Natur, die uns auch sonst ambivalent begegnet, aber keine Schöpfungsvariante», erklärt Raedel. Was heisst das? Der Theologieprofessor macht eine knifflige Unterscheidung zwischen «natürlicher» und «geschöpflicher» Welt und folgt damit dem Theologen Dietrich Bonhoeffer. Die geschöpfliche Welt ist Gottes gute Schöpfung, die den Menschen aber «nur in der Brechung durch die Sünde zugänglich» sei. Damit ist gemeint, dass jeder Mensch Dinge erlebt, die schwierig sind oder unvollkommen sind. «Das ist auch auf der hormonellen und anatomischen Ebene möglich», sagt Raedel mit Blick auf Intersexuelle.
Der Autor des Buches «Gender – vom Gender Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt» (2017) betont: «In der Bibel ist Zweigeschlechtlichkeit die Norm und Intersexualität die Abweichung, die diese Norm voraussetzt.» Gemäss Jesus sei der Zugang zum Reich Gottes aber keine Frage der eindeutigen Geschlechtszuordnung, sondern «der ungeteilten Hingabe an Gott» (Matthäus 19, 10–12).
Protest gegen Operationen
Die politische Entwicklung in der Schweiz wurde beschleunigt vom deutschen Bundesverfassungsgericht. Im Herbst 2017 hatte es das Parlament verpflichtet, bis Ende 2018 einen dritten Geschlechtseintrag im Geburtenregister zu ermöglichen oder auf den Geschlechtseintrag zu verzichten. Betroffene Intersex-Menschen aus der Schweiz sind aber gar nicht interessiert an so einer Lösung. Die meisten würden als Mann oder Frau leben; ein drittes Geschlecht sei für sie kein Thema, sagt Daniela Truffer von der Organisation «Zwischengeschlecht.org».
Die politische Debatte lenke vom zentralen Problem ab, kritisiert Truffer. Und das seien die Operationen. Bis heute würden Intersex-Babys «menschenrechtswidrigen Genitaloperationen» unterworfen. Das Argument von Spitälern, dass oft die Eltern geschlechtsangleichende Eingriffe wünschten, lässt sie nicht gelten. «Man sollte zuwarten, bis die Kinder selber entscheiden können.»
